Stichwort: BaSys
Heutzutage sind die meisten Fertigungsanlagen noch auf die Massenproduktion identischer Waren ausgelegt. Obwohl Fertigungssysteme oft eine gewisse Flexibilität besitzen, sind sie nicht vollständig wandelbar. Stattdessen sind Änderungen oft mit hohen Kosten verbunden.
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 12 Mio. Euro geförderte Projekt »Basissystem Industrie 4.0« (BaSys 4.0) ist 2016 an den Start gegangen, um das zu ändern. BaSys 4 definiert eine Referenzarchitektur für hochflexible Produktionssysteme, die den Wandel zur Industrie 4.0 und kleine Losgrößen ermöglicht. Federführend dabei ist das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE. Zu den Industriepartner in dem Projekt gehören unter anderem ABB, Bosch, Festo, Kuka, Lenze, ZF und Bosch Rexroth.
Mittlerweile liegt mit der Open-Source-Middleware Eclipse BaSyx eine Referenzimplementierung der Konzepte von BaSys 4 vor. Kollege Roboter hat sich mit dem Technischen Projektleiter Dr. Thomas Kuhn vom Fraunhofer IESE über die Möglichkeiten unterhalten, die BaSyx bietet.
Worum geht es bei BaSyx?
Thomas Kuhn: In bisherigen Fertigungsumgebungen sind viele verschiedene Komponenten am Werk und die sind in der Regel nicht miteinander integriert. BaSyx ermöglicht nun, all diese Systeme zu integrieren. Man kann so flexible Lieferketten realisieren, kleine Losgrößen fertigen und die Qualität seiner Produkte besser vorhersagen. Alles dadurch, dass wir Digitale Zwillinge vom Fertigungsprozess haben, aber auch von der Fabrik und von den Produkten selbst.
Aus welchen “Bausteinen” setzt sich BaSyx zusammen?
Kuhn: Dazu muss man etwas ausholen: Es gibt das Reifegradmodell der Acatech, bei dem die Reifegrade 3 bis 6 die "Industrie 4.0" darstellen; BaSyx realisiert dabei alle sechs Stufen. 1 und 2 sind mit “Computerisierung” und “Konnektivität” die vorbereitenden Schritte.
Anhand dieses Modells lässt sich die Struktur von BaSyx gut erklären. Der Reifegrad 3 ist etwa überschrieben mit dem Begriff Sichtbarkeit, das heißt: Man möchte seinen Prozess sehen können. Dafür reicht es, Daten der beteiligten Komponenten zu sammeln, ohne dass diese integriert sein müssen. Das macht man heute oft mit sogenannten Edge Devices, die etwa die Daten von drei Sensoren aufnehmen und auf einem Bildschirm als eine Art Dashboard grafisch darstellen.
Zur Person: Dr. Thomas Kuhn
Dr.-Ing. Thomas Kuhn hat 2009 mit summa cum laude an der Technischen Universität Kaiserslautern promoviert. Er ist seit 2008 am Fraunhofer Institut IESE beschäftigt und leitet dort die Hauptabteilung Eingebettete Systeme. Der Fokus seiner Arbeiten liegt auf Simulationstechnologien und digitalen Zwillingen. Seit 2016 agiert er als Technischer Projektleiter für das nationale Referenzprojekt BaSys 4.0, in dem die Open-Source-Middleware BaSyx für Industrie-4.0-Lösungen entwickelt wird.
Welchen Vorteil bringt das in der Praxis?
Kuhn: Damit lassen sich schon interessante Sachen erledigen, etwa eine koordinierte vorausschauende Wartung. Ein Gerät teilt mit, dass es morgen gewartet werden muss, ein anderes ist erst in 14 Tagen fällig - aber es kann sinnvoll sein, das gemeinsam zu erledigen. Doch dafür braucht man eine Gesamtsicht auf den Prozess, eine gemeinsame Sprache, mit der die Geräte kommunizieren können - und das ist die sogenannte Verwaltungsschale beim Konzept Industrie 4.0. Hierbei handelt es sich um die technologische Basis für den Digitalen Zwilling, also um eine im Wesentlichen vereinheitlichte Schnittstelle für alle Arten von Assets. Die Verwaltungsschale ist eine zentrale Komponente von BaSyx.
Verwaltungsschale wandert durch den Prozess
Welche Eigenschaften hat diese Verwaltungsschale?
Kuhn: Die Verwaltungsschale kann sich durch den gesamten Prozess bewegen, etwa um dem Produkt während der Fertigung zu folgen. Sie enthält Algorithmen, um Daten zu verarbeiten. Dadurch muss man die Daten - bei Rohdaten können das enorme Mengen sein - nicht quer durch die ganze Firma schicken, sondern die Daten werden gleich dort verarbeitet, wo sie anfallen.
Damit kann ich eine einheitliche Sicht auf meinen Prozess realisieren, weil ich Verwaltungsschalen nicht nur für die Geräte, sondern auch für den Prozess, für Aufträge, den Warenbestand und sogar für meine Werker haben kann.
Das war der Punkt “Sichtbarkeit”, was ist noch möglich mit BaSyx?
Kuhn: Man kann sagen, beim Reifegrad 5 im Acatech-Modell geht es um die Prädiktion, man will die Auswirkungen von Entscheidungen verstehen und vorhersagen können. Dafür muss man aber den ganzen Prozess simulieren. Dafür haben wir den Baustein der sogenannten Führungskomponente entwickelt. Die Führungskomponente ist auch eine einheitliche Schnittstelle, die es aber ermöglicht, auf Geräte einzuwirken.
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Nach der Sachertorte kommt kein Motorblock
Was heißt das konkret?
Kuhn: Ich kann einen bestimmten Dienst starten, wie etwa das Bohren eines Lochs.
Das hört sich erstmal recht banal an...
Kuhn: Entscheidend war dabei, es als vereinheitlichte Schnittstelle zu realisieren. Wenn man von der Losgröße 1 spricht, bedeutet das ja nicht, man fertigt eine Sachertorte und danach einen Motorblock. Es geht oft eher um Varianten eines Produktes, die etwa zusätzliche Bohrlöcher brauchen.
Deswegen haben wir uns das Konzept der dienstbasierten Architektur überlegt, das es in der Softwarewelt unter dem Begriff SOA (Service Oriented Architecture) schon sehr lange gibt. Das haben wir auf die Automatisierung übersetzt. Es ermöglicht, dass jedes Produkt mit seinem eigenen "Rezept" gefertigt werden kann, weil es seinen eigenen Bauplan mitbringt. Dann muss man "nur" noch entscheiden, welche Arbeitsschritte wann auf welcher Arbeitsstation ausgeführt werden sollen.
Das ist ja durchaus nicht trivial…
Kuhn: Genau, da steckt durchaus einiges dahinter: Man muss entscheiden, welche Schritte kann diese Arbeitsstation überhaupt durchführen und mit welcher Qualität kann ein Arbeitsschritt durchgeführt werden? Zudem muss man wissen: Wann ist der Dienst fertig mit seiner Aufgabe, war der Prozess erfolgreich, oder gab es einen Fehler? Um das zu realisieren, braucht es eine einheitliche Schnittstelle, um einen Dienst zu starten. Und genau das ermöglicht die Führungskomponente.
Das heißt, ich kann nun auf diese Weise virtuell testen, was passiert, wenn ich ein Gerät etwa durch ein anderes, langsameres ersetze. Also: Funktioniert mein Prozess noch, oder stauen sich die Produkte?
BaSyx-Middleware – einfach erklärt anhand der Modellfabrik
Vorhersage schafft die Basis für Adaption
Wie geht es weiter im Acatech-Reifegradmodell?
Kuhn: Die höchste Stufe ist die Adaption.
Was bedeutet das?
Kuhn: Wenn ich eine Vorhersage treffen kann, dann kann ich auch adaptieren - das heißt, mich automatisiert auf eine neue Situation einstellen. Das haben wir mithilfe einer Monte-Carlo-Simulation realisiert, basierend auf dem Framework Feral, das aber nicht Teil der Open-Source-Lösung ist.
Zusammenfassend kann man sagen: Die Verwaltungsschalen und die Führungskomponenten sind die Hauptbestandteile von BaSyx und das Handwerkszeug, das man benötigt, um eine Industrie-4.0-Lösung zu realisieren. Mit der Fraunhofer-Technologie Feral kann man die Lösung dann tauglich machen für eine automatische Adaption auf neue Situationen.
Kann man damit eine Fertigungsumgebung schaffen, die autonom auf Veränderungen – etwa in der Auftragslage – reagiert?
Kuhn: Das kann man in der Tat realisieren, die meisten Nutzer werden aber nicht so weit gehen. Wir haben inzwischen 25 Umsetzungsprojekte bei KMU begleitet, die zum Teil auch noch laufen. Dabei haben wir gesehen, dass es ganz oft erst einmal darum geht, den eigenen Fertigungsprozess transparent zu machen und Fragen zu beantworten wie: Kann ich diesen Auftrag jetzt noch annehmen oder wo liegt mein Flaschenhals in der Produktion? Das ist, was in den BaSys-Projekten am häufigsten gemacht wurde.
Was waren denn weitere konkrete Zielsetzungen?
Kuhn: Es gibt Anwender, die sagen, ich möchte mit meinen Kunden automatisiert Daten austauschen, zum Beispiel Kalibrierscheine. Einige wollen auch wirklich von der Möglichkeit zur Losgröße 1 profitieren und dafür ihre Fertigung flexibilisieren.
Bei der Service Oriented Architecture hat man sich ja rein in der Softwarewelt bewegt. In der Fertigung gibt es aber auch physische Systeme wie unterschiedlichste Steuerungen und einen Dschungel an Feldbussystemen. Wie kann da die Integration gelingen?
Kuhn: Es gibt dafür eine Reihe von Kommunikationsstandards, die auf dem Vormarsch sind, wie OPC-UA, MQTT, oder Https. Ich denke, es wird auch in Zukunft voraussichtlich mehr als nur ein Protokoll für alles geben - aber hoffentlich nicht mehr so viele wie heute.
Wichtig ist vor allem erst einmal, dass überhaupt Daten ausgetauscht werden, auch über verschiedene Welten hinweg. Wir haben bei BaSyx dafür ein Gateway-basiertes System entwickelt, womit wir Kommunikationsströme unterschiedlicher Protokolle aufeinander abbilden können. Das hat den Vorteil, dass man eine neue Kommunikationstechnologie nur einmal integrieren muss, dann können die Daten in die Verwaltungsschale eingespielt werden und man kann über die Verwaltungsschale auf die Daten zugreifen. Wir haben das realisiert mit dem Virtual Automation Bus – oder kurz „VBA“.
Lässt sich mit dem VBA als “Universalübersetzer” auch die Hierarchie in der klassischen Automatisierungspyramide aufheben?
Kuhn: Ursprünglich haben wir den VBA ganz pragmatisch realisiert als Brücke, um grundlegende Funktionen von einem Übertragungsprotokoll auf ein anderes mappen zu können. Wir entwickeln ihn derzeit weiter, damit er die Möglichkeit bekommt, auch semantisch zu übersetzen.
Was bedeutet das?
Kuhn: Bei MES- und ERP-Systemen hat man semantische Dienste, zum Beispiel das Anlegen eines neuen Auftrags im ERP-System oder das Ausbuchen eines Werkstücks - und das funktioniert bei jedem Hersteller ein bisschen anders. Wir denken darüber nach, wie eine vereinheitlichte Schnittstelle zu solchen Systemen aussehen kann, damit man auch diese mithilfe von Verwaltungsschalen darstellen kann.
Was wäre dadurch möglich?
Kuhn: Man könnte dann sagen: Ich verwende ein ERP-System von Hersteller X, bei einem Lieferanten läuft ein System vom Hersteller Y. Durch eine solche Schnittstelle könnte ich - im Rahmen der mir eingeräumten Rechte natürlich - auf das Fremdsystem zugreifen. Etwa, um zu erfahren, wie schnell ein Auftrag beim Zulieferer ausgeführt werden könnte.
Das wäre dann also der Digitale Zwilling eines ERP-Systems?
Kuhn: Der Digitale Zwilling einer gesamten Fabrik soll ja alle relevanten Eigenschaften und Dienste zusammenfassen. Dem Nutzer sollte dabei egal sein, von welchem System bestimmte Informationen bereitgestellt werden. Heute sind die Digitalen Zwillinge noch relativ überschaubar. Aber in unserer Vision ist es schon so, dass dann komplette Fabriken virtualisiert sind - und das inklusive eines ERP-Systems.
Dann wird natürlich auch die Datennutzung sehr spannend. Dabei wird es auch erforderlich sein, gemeinsam mit den Daten zu hinterlegen, wer damit was genau anstellen darf. Das muss sogar Vertragscharakter haben.
Durch BaSyx werden Digitale Zwillinge auch über Unternehmensgrenzen hinweg zugänglich, was auch Rückschlüsse über die Eigenschaften der Komponenten zulässt. Wie weit geht denn da die Transparenz der Industrie?
Kuhn: Mittlerweile geht das tatsächlich sehr weit. Der Standard für die Verwaltungsschale wird gemeinsam mit der Industrie entwickelt, etwa im Rahmen der Industrial Digital Twin Association (IDTA). Deren Mitgliedsliste umfasst das Who's Who der Automatisierungsunternehmen. Natürlich war es lange Zeit so, dass man versucht hat, Marktanteile zu verteidigen, indem man eigene, proprietäre Schnittstellen hatte. Mittlerweile ist eher die Haltung: Wenn ich mich da nicht beteilige, dann habe ich in Zukunft gar keine Marktanteile mehr, weil die Kunden eine Verwaltungsschalen-Schnittstelle wollen.
Wie sehen ein Jahr nach dem offiziellen Release die Erfahrungen mit BaSyx aus?
Kuhn: Wir sehen grundsätzlich, dass das System richtig gut funktioniert. Wir haben im vergangenen Jahr auch viel Energie in seine Integration mit IT-Systemen gesteckt.
Wo liegt denn da die besondere Herausforderung?
Kuhn: Der Knackpunkt ist: Wie geht man damit um, dass Verwaltungsschalen sehr langlebige Artefakte sind, wir reden bei Maschinen in der Industrie ja von Lebensdauern von 20 Jahren und mehr. Man muss einfach damit leben, dass die Geräte - und damit auch deren Digitale Zwillinge - sehr lange funktionieren müssen. Wir haben jetzt dafür gesorgt, dass man BaSyx in diese sich verändernden IT-Infrastrukturen integrieren kann.
Ab welcher Unternehmensgröße ist denn ein Einstieg sinnvoll?
Kuhn: Um gerade kleinen Unternehmen den Einstieg zu erleichtern, haben wir einige Dinge vorab zusammengepackt. So gibt es neben der eigentlichen Middleware auch Applikations-Container auf Open-Source-Basis, wo eine Anwendung in einer virtuellen Maschine vorkonfiguriert ist.
Das bedeutet…?
Kuhn: Das heißt: Ein kleines Unternehmen kann sich heute BaSyx herunterladen und sich mithilfe eines Tutorials im Netz eine Verwaltungsschale für eine Maschine konfigurieren. Dann wird der Applikations-Container "Dashboard" gestartet und schon hat man auf diese Weise eine Visualisierung der Daten aus der Produktion. Wenn man bis dahin noch keine digitale Lösung in der Fertigung hatte, dann ist das schon ein echter Schritt nach vorne.
Wie kann ich als Unternehmen den Einstieg angehen? Einfach die Software herunterladen und loslegen - oder brauche ich Berater?
Kuhn: Genau diese Entscheidung überlassen wir den Unternehmen! Wir haben ein recht umfangreiches Wiki auf der BaSyx-Webseite, wo viele Fragen beantwortet werden und es auch viele Praxisbeispiele gibt. Es ist alles da, um das selbst zu machen, wir bieten aber auch Schulungen und Coachings und Beratungspakete an.
Das Schöne ist: Man kann mit BaSyx sehr viel machen, muss es aber nicht.
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