Noch nie bewerteten Unternehmen den Standort Deutschland so schlecht wie heute. Doch obwohl Fachkräftemangel und Bürokratie die neue Normalität der Betriebe prägen, sind viele von ihnen nach wie vor hochinnovativ.

Noch nie bewerteten Unternehmen den Standort Deutschland so schlecht wie heute. Doch obwohl Fachkräftemangel und Bürokratie die neue Normalität der Betriebe prägen, sind viele von ihnen nach wie vor hochinnovativ. (Bild: hkama - stock.adobe.com)

Deutschland geht es miserabel. Während Bundestagsabgeordnete und führende Politiker der AfD gemeinsam mit Rechtsradikalen und Neonazis wie jüngst bei einem Treffen in Potsdam von der massenhaften Deportation ausländischer Mitbürger träumen, fehlen Unternehmen die Fachkräfte. Selbst Zuwanderung kann die Personalnot in den kommenden 15 Jahren kaum lindern, warnt die Bundesbank. Denn die deutsche Gesellschaft altert und Erwerbstätige wollen immer weniger arbeiten.

Weil jeder Arbeitnehmer 2023 im Schnitt 20 Tage krank war, schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,3 Prozent. Wären mehr Arbeitsstunden geleistet worden, hätte die Wirtschaft um bis zu 0,5 Prozent wachsen können, so der Verband forschender Pharmaunternehmen.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sieht im Fachkräftemangel die größte Bremse für die Innovationsstärke von Unternehmen. Wer sich da in Deportationsfantasien ergeht, versteht nicht, dass Betriebe Mitarbeitende brauchen, um Güter zu produzieren, neue Produkte zu entwickeln und Wohlstand zu erwirtschaften. Nur wenn sie innovativer und produktiver werden, können Betriebe zudem die immer schlechteren Standortbedingungen in Deutschland ausgleichen.

Strompreis reißt Löcher ins Innovationsbudget von Unternehmen

Unternehmen müssen aktuell viel mehr Geld für Strom in die Hand nehmen. Laut dem Sachverständigenrat waren die durchschnittlichen Strompreise im ersten Halbjahr 2023 immer noch 60 Prozent höher als die Preise im Zeitraum von 2015 bis 2019. Vier von zehn Industrieunternehmen gaben daher in einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) an, dass ihre Wettbewerbsfähigkeit unter nichts so sehr leide, wie unter dem hohen Strompreis.

„Wenn sie für Energie mehr bezahlen müssen, fehlt Unternehmen dieses Geld häufig an anderer Stelle - etwa für Innovationen oder Investitionen in neue Produktionstechnologien“, erklärt Dr. Susanne Gewinnus, Leiterin des Referates „Industrie – Forschung“ bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK).

„Zugleich wissen Betriebe nicht, wie hoch ihre Energiekosten auf Dauer sein werden“, ergänzt Professor Axel Plünnecke, Leiter des Clusters Bildung, Innovation, Migration am IW. Auch diese Unsicherheit bremse Investitionen. „An anderen Standorten ist das nicht so, weil diese nicht zugleich aus Atomkraft, Gas und Kohle als Energieträger aussteigen wollen, während der Ausbau erneuerbarer Energien noch zu langsam ist.“

Damit nicht genug. Die Wettbewerbsfähigkeit von 90 Prozent der vom IW befragten Betriebe leidet auch unter dem Aufwand, den ihnen der Staat verursacht - also der Bürokratie. Die durch sie entstehenden Kosten haben Fixkostencharakter, schmälern also besonders die finanziellen Spielräume kleiner und mittelständischer Unternehmen für Innovationen.

Industrie kämpft bei Digitalisierung und 5G mit Funklöchern

Die mangelhafte digitale Infrastruktur in Deutschland trifft dagegen alle Unternehmen. „Wenn es um proprietäre 5G-Netze geht, sitzen Firmen auf dem Land oft noch im Funkloch“, berichtet der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), Hartmut Rauen. „Sind Unternehmen von digitaler Infrastruktur abgeschnitten, können sie noch so gute Ideen für datenbasierte Geschäftsmodelle entwickeln. Wenn sie Daten nicht übertragen können, werden sich Kunden irgendwann andere Partner suchen“, veranschaulicht der Geschäftsführer des Fachverbandes Software und Digitalisierung im VDMA, Professor Claus Oetter das Problem.

Wen wundert da, dass Unternehmen die Standortbedingungen in Deutschland noch nie so miserabel bewerteten wie derzeit? Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Umfrage „Industriestandort Deutschland“ der DIHK. In ihr bewerten die teilnehmenden Unternehmen die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung auf einer Schulnotenskala mit 4,8 – „mangelhaft“. In der Vorgängerumfrage reichte es vor drei Jahren noch für ein „ausreichend“. Deutsche Behörden bekommen für ihre Leistung sogar nur eine 5,2. Die Höhe der Energiekosten benoten die Befragten mit „mangelhaft“.

Deutschland war zu lange selbstzufrieden

Diese Unzufriedenheit ist Folge einer lange verfehlten Standortpolitik. „Deutschland hat in den letzten 20 Jahren im Prinzip keine Strukturreformen gemacht, während der Rest der Welt sich neu aufgestellt hat“, erklärt der Wirtschaftshistoriker Klemens Skibicki im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk.

Was wir uns stattdessen erlaubt haben, ist eine „lange Phase der Selbstzufriedenheit“, kritisiert Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im britischen Wirtschaftsmagazin 'Economist'. „Lethargie und Blindheit“ hätten dazu geführt, dass Politiker es zu lange versäumt haben, die nötigen Veränderungen einzuleiten, so Habeck.

Michael Köhler, Senior Analyst bei der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) unterlegt das mit Zahlen. „Seit der Finanzkrise betrugen die öffentlichen Investitionen hierzulande nur durchschnittlich 2,3 Prozent des BIP“, so Köhler, weil die unionsgeführten Bundesregierungen weder die Infrastruktur erhielten, noch die Energiewende vorantrieben oder in das Bildungssystem investierten. Andere europäische Staaten investierten im Schnitt 3,7 Prozent ihres BIP.

Viele Unternehmen seien daher inzwischen vollauf damit beschäftigt, mit den aktuellen Herausforderungen klarzukommen, berichtet DIHK-Hauptgeschäftsführer, Martin Wansleben. Dazu, neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, kommen sie nicht mehr. Das zeigt der Innovationsreport 2023 der DIHK. Ihm zufolge liegt die Innovationsbereitschaft von Unternehmen auf dem niedrigsten Stand seit 2008. Wollte bei der letzten Umfrage 2020 noch jedes zweite Unternehmen mehr neue Produkte, Prozesse und Dienstleistungen entwickeln, sind es nun nur noch 38 Prozent, 15 Prozent der Befragten fahren Innovationen zurück.

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Ohne Investitionen kommen deutsche Unternehmen nicht voran

Innovationen bräuchte es allerdings dringend, damit die deutsche Wirtschaft wieder so produktiv wird, dass sie jedes Jahr ein größeres BIP und damit mehr Wohlstand erwirtschaften kann. Denn der Modernitätsgrad des Kapitalstocks, also der Maschinen, Anlagen und Wirtschaftsgebäude in Deutschland, ist seit dem Jahr 2000 um zwölf Prozent gesunken, so der Sachverständigenrat. Der Anteil der Unternehmensinvestitionen am BIP betrage zwar 13 Prozent, melden die an der „Gemeinschaftsdiagnose“ beteiligten Wirtschaftsforschungsinstitute. Ein Großteil dieses Geldes fließe aber in den Klimaschutz. Dadurch wird der Kapitalstock weder größer noch produktiver.

Damit sich das ändert, müssen sich die Standortbedingungen verbessern, ist Sabine Gewinnus von der DIHK überzeugt. „Bevor Unternehmen investieren, müssen sie überzeugt sein, dass sich ihre Investition an einem Standort rentiert“, erklärt sie. Das waren die Firmen zuletzt immer seltener. Zahlen der Bundesbank zufolge sind 2022 gut 122 Milliarden Euro an Direktinvestitionen aus Deutschland abgeflossen, wurden also nicht in neue Maschinen, Prozesse oder Innovationen investiert.

Das sind die Industrietrends 2024

Roboter in Fabrik
  (Bild: Nataliya Hora - stock.adobe.com)

Deutschland erlebt aktuell die längste Industrieflaute seit 70 Jahren

Im Ergebnis haben diese Defizite Deutschland in eine der längsten Industrieflauten der vergangenen 70 Jahre geführt, stellt IW-Geschäftsführer, Professor Hubertus Bardt fest. Wenn es bei den Schwächen des Standorts bleibt, wird sich daran künftig wenig ändern, warnt LBBW-Chefvolkswirt Moritz Kraemer. Vielmehr würden wiederkehrende Rezessionen für Deutschland zur „neuen Normalität“.

Wenn Unternehmen deshalb schließen müssen oder das Land verlassen, verliert die Industrie besonders auf dem Land ihre Funktion als bindende Kraft der Gesellschaft, befürchtet IW-Ökonom, Axel Plünnecke. „Denn dort finden viele Betriebe, die Flächen, die sie brauchen, und schaffen daher Arbeitsplätze und Wohlstand für Menschen, die nicht einfach in die in den Städten konzentrierte Dienstleistungswirtschaft wechseln können“, betont er.

Bislang sind viele dieser Betriebe aber noch hoch innovativ und behaupten sich erfolgreich gegen die Krise am Standort Deutschland. So hat die Schaltbau GmbH, Hersteller elektromechanischer Komponenten wie Stecker und Schütze für Anwendungen mit hohen Sicherheitsanforderungen, im September 2023 im niederbayerischen Velden die weltweit erste Fabrik in Betrieb genommen, die fast ausschließlich mit Gleichstrom läuft.

„Mit ihr zeigen wir, dass sich Investitionen auch am Standort Deutschland nach wie vor rechnen, wenn Digitalisierung und hohe Automatisierung mit einem progressiven, dezentralen Energiekonzept auf Basis von Gleichstrom kombiniert werden“, erklärt der Finanzvorstand von Schaltbau, Steffen Munz. Dabei mussten seine Mitarbeiter das Energienetz der Fabrik fast vollständig neu entwickeln. Denn Gleichstrom ist beim Betrieb von Produktionsstätten eine so neue Technologie, dass Normen und Standards dafür gerade erst entstehen. Doch er bietet gewaltige Vorteile.

Schaltbau zeigt, wie sich Investitionen in Deutschland noch rechnen

Mit Gleichstrom senkt Schaltbau die Energiekosten in der neuen Fabrik um rund ein Drittel. Produziert wird der Strom von einer Photovoltaikanlage mit einer Leistung von 1,6 Megawatt peak auf den Dächern der Fertigungshalle und der Bürogebäude. Da er anders als Wechselstrom aus dem öffentlichen Netz nicht erst in Gleichstrom umgewandelt werden muss, bevor er die drehzahlgeregelten Motoren der Maschinen in der Werkshalle antreibt, spart sich Schaltbau die Energie, die bei Umwandlungsprozessen verloren geht. „Dadurch steigt die Energieeffizienz unserer Gleichstromfabrik um 15 Prozent“, berichtet Steffen Munz.

Zugleich liefern in das Energiesystem des Werks integrierte Batterien bis zu einer Megawattstunde Strom, wenn dieser kurzfristig für besonders energieintensive Prozesse benötigt wird. Dadurch steigt auch die Anlagenverfügbarkeit auf bis zu 98 Prozent. Die Anschlussleistung, die mit Gleichstrom betriebene Fabriken noch aus dem öffentlichen Netz beziehen müssen, sinkt dagegen um bis zu 70 Prozent.

maschinenbau-Gipfel Salon
(Bild: mi-connect)

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Nur innovative Firmen können sich den Standort Deutschland leisten

Im oberbayerischen Windach stellt auch Delo hochinnovative Produkte her. Jedes Jahr investiert der Klebstoffhersteller 15 Prozent seiner zuletzt 204 Millionen Euro Umsatz in Forschung und Entwicklung. Produkte, die jünger als drei Jahre sind, tragen rund ein Fünftel zu den Erlösen bei.

Insgesamt haben die Bayern rund 400 Klebstoffe für die Automobil-, Halbleiter- und Unterhaltungselektronikindustrie im Portfolio. Jedes Jahr kommen ein paar Dutzend neue Produkte dazu – darunter in der Regel meist mehrere strategisch bedeutsame Innovationen, mit denen Delo Märkte besetzen kann, die für größere Konkurrenten wenig attraktiv und für kleinere Wettbewerber zu komplex sind.

Die Strategie geht auf. Im Geschäftsjahr 2022/23 stieg der Umsatz des Mittelständlers um zwölf Prozent. „Für uns stellt sich weniger die Frage, ob wir unter den erschwerten Standortbedingungen auch Innovationen finanzieren können. Vielmehr müssen wir zwingend innovativ sein, um hier am Standort zu bleiben, uns diesen Standort leisten zu können“, resümiert Dr. Karl Bitzer, Mitglied der Delo-Geschäftsführung.

Auch für die Arbeitnehmenden zahlt sich das aus. Allein 2023 stellte Delo 100 neue Kolleginnen und Kollegen ein und beschäftigt nun 1000 Mitarbeiter. „Natürlich tun uns viele Standortbedingungen weh“, räumt Bitzer ein. Zwar träfen die hohen Energiekosten das Unternehmen weniger als typische Chemieunternehmen weil Delo kleine Mengen sehr hochwertiger Klebstoffe herstellt. Obwohl sie aktuell über 100 offene Stellen anbieten, kommen die Bayern auch mit dem Fachkräftemangel aktuell noch klar. „Wobei wir ohne diesen mehr Ideen in kürzer Zeit umsetzen könnten“, meint Karl Bitzer.

Kukas Chief Innovation Officer Tagscherer über gutes Innovationsmanagement

Maschinenbau profitiert von innovativen Kunden

Von innovativen Kunden wie Delo und Schaltbau profitiert auch der Maschinenbau. „Wir sind Enabler, die Kunden aus anderen Branchen mit individualisierten, kosteneffizienten, smarten und CO2-sparsamen Maschinen dazu befähigen, erfolgreich und produktiv zu sein“, erklärt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des VDMA Hartmut Rauen. Das habe Maschinenbauern in der Vergangenheit volle Auftragsbücher beschert. „Noch arbeiten wir diese ab, sodass die Situation in vielen Betrieben noch nicht so schlecht ist, wie man meinen könnte“, erklärt Rauen.

Allerdings sind die Auftragspolster von Januar bis Oktober 2023 um 13 Prozent kleiner geworden. Der VDMA erwartet daher, dass deutsche Maschinenbauer 2024 vier Prozent weniger produzieren werden als im Vorjahr. Da die Branche 16 Prozent des BIP erwirtschaftet, trifft das die deutsche Wirtschaft insgesamt. Dem Standort Deutschland geht es wahrlich nicht gut.

Überarbeitet von Julia Dusold

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