Wirtschaft

Protektionismus trifft deutsche Industrie ins Mark

Neue Handelshemmnisse verändern die Spielregeln für die deutsche Industrie: Laut Allensbach-Studie ist fast jedes zweite Unternehmen stark betroffen. Viele bauen Kapazitäten in den USA oder China aus, andere ziehen Investitionen zurück oder passen ihr Portfolio an.

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Knapp ein Drittel der Unternehmen (32 Prozent) baut Produktionskapazitäten in den USA oder China auf beziehungsweise aus oder plant entsprechende Investitionen.

43 Prozent der deutschen Industrieunternehmen geben an, stark von neuen Handelshemmnissen betroffen zu sein, weitere 11 Prozent sogar sehr stark. Damit spürt mehr als jedes zweite Unternehmen deutliche Auswirkungen auf Kostenstrukturen, Lieferfähigkeit oder Marktzugang. Das ist das zentrale Ergebnis einer repräsentativen Befragung von 169 Vorständen und Geschäftsführern deutscher Industrieunternehmen, die das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag von FTI-Andersch durchgeführt hat.

Die Zahlen verdeutlichen: Protektionismus ist kein Randthema mehr, sondern hat sich zu einem zentralen Risikofaktor entwickelt – vergleichbar mit Energiepreisen, Fachkräftemangel oder Finanzierungskosten.

Handelshemmnisse verändern Markt- und Produktionsmodelle

Die Reaktionen der Unternehmen setzen vor allem dort an, wo Handelsbarrieren unmittelbar wirken: bei Absatzmärkten und Produktion. Rund 47 Prozent der vom Protektionismus betroffenen Unternehmen richten ihre Absatzmärkte neu aus oder planen diesen Schritt. Ziel ist es, stärker auf Regionen zu setzen, die weniger von Zöllen oder handelspolitischen Restriktionen betroffen sind.

Parallel dazu bauen ebenfalls rund 47 Prozent identische Produktionslinien im Ausland auf oder ziehen dies in Betracht. Der Hintergrund: Wer im Zielmarkt produziert, kann kurzfristige Änderungen im Zollregime besser abfedern und Lieferketten stabil halten. Diese Entwicklung markiert eine weitere Abkehr vom klassischen Exportmodell hin zu stärker regionalisierten Produktionsstrukturen.

Besonders auffällig ist der Blick auf die Standortentscheidungen: Knapp ein Drittel der Unternehmen (32 Prozent) baut Produktionskapazitäten in den USA oder China auf beziehungsweise aus oder plant entsprechende Investitionen. Beide Märkte bleiben damit trotz geopolitischer Spannungen und regulatorischer Risiken von zentraler Bedeutung für die deutsche Industrie.

Gleichzeitig zeigt die Studie, dass Unternehmen selektiver investieren: Jedes fünfte Unternehmen (21 Prozent) zieht Investitionen aus bestimmten Ländern oder Regionen zurück oder plant diesen Schritt. Standortentscheidungen werden damit deutlich stärker unter geopolitischen Vorzeichen getroffen als noch vor wenigen Jahren.

Produktportfolios unter Zollgesichtspunkten

Nicht nur Standorte, auch Produkte geraten auf den Prüfstand. 39 Prozent der Unternehmen passen ihr Produktportfolio an oder planen dies, um künftig weniger zollintensive Produkte zu priorisieren. Das betrifft etwa Vorprodukte mit hohen Importzöllen oder komplexe Baugruppen, deren internationale Wertschöpfung besonders anfällig für Handelsbeschränkungen ist.

Diese Entwicklung zeigt: Protektionismus beeinflusst nicht nur das „Wo“ der Produktion, sondern zunehmend auch das „Was“. Produktstrategien werden enger mit handelspolitischen Risiken verzahnt.

Vier von fünf betroffenen Unternehmen (80 Prozent) versuchen bereits, über Verbände oder durch direkten Austausch politischen Einfluss zu nehmen, um auf die Belastungen durch Handelshemmnisse aufmerksam zu machen. Doch aus Sicht von FTI Consulting kann Lobbyarbeit allein die strukturellen Herausforderungen nicht lösen.

„Der Dialog mit der Politik ist wichtig – aber er ersetzt keine Entscheidungen im Unternehmen“, sagt Jens Paulus, Senior Managing Director und Head of Geopolitical Risk Services bei FTI Consulting Deutschland. „Protektionismus ist inzwischen eine Planungsgröße: Wer erst reagiert, wenn Zölle steigen, verliert Zeit, Marge und Lieferfähigkeit.“

Lieferketten werden geopolitisch flexibler

Neben Markt- und Produktionsanpassungen gewinnen auch neue Formen der Absicherung an Bedeutung. 24 Prozent der Unternehmen nutzen oder planen geopolitisch flexible Lieferverträge mit Ausstiegsklauseln. 16 Prozent setzen auf Joint Ventures in Drittstaaten, um Risiken breiter zu streuen und Abhängigkeiten zu reduzieren.

Diese Maßnahmen zeigen: Unternehmen versuchen zunehmend, ihre Lieferketten so zu gestalten, dass sie auch bei kurzfristigen handelspolitischen Veränderungen handlungsfähig bleiben – selbst wenn dies höhere Komplexität und zusätzliche Kosten bedeutet.

Die Studie beleuchtet detailliert drei industrielle Schlüsselbranchen: energieintensive Industrie, Maschinen- und Anlagenbau sowie Automobilindustrie und -zulieferer. Zwar sind alle ähnlich stark betroffen, doch die Reaktionsmuster unterscheiden sich deutlich.

42 Prozent der betroffenen Unternehmen aus der energieintensiven Industrie haben bereits identische Produktionskapazitäten im Ausland aufgebaut. Zudem nutzen oder planen 36 Prozent geopolitisch flexible Lieferverträge – deutlich mehr als in den anderen Branchen. Der hohe Kosten- und Standortdruck zwingt diese Unternehmen zu schnellen und oft weitreichenden Entscheidungen.

Automobilzulieferer reagieren häufiger über ihr Produktangebot: 34 Prozent haben ihr Portfolio bereits angepasst, um weniger anfällig für Handelshemmnisse zu sein. Produktionsverlagerungen spielen ebenfalls eine Rolle, stehen aber weniger im Vordergrund als in der energieintensiven Industrie.

Im Maschinen- und Anlagenbau befinden sich viele Maßnahmen noch im Planungsstadium. 22 Prozent planen den Aufbau identischer Produktionslinien im Ausland, 14 Prozent eine stärkere Ausrichtung auf weniger betroffene Absatzmärkte. Lange Zeit profitierten viele Unternehmen von Technologievorsprung und integrierten Services – doch diese Schutzwirkung nimmt ab.

Sorge um Technologieführerschaft wächst

„Die Muster passen zu den wirtschaftlichen Zwängen der Branchen“, sagt Jens Paulus. „Energieintensive Unternehmen setzen bereits umfangreicher um, weil Kosten- und Standortdruck unmittelbar wirken. Im Maschinen- und Anlagenbau bestand dagegen über Jahre eine stärkere Wettbewerbsposition.“

Doch die Lage verändert sich: Immer mehr Unternehmen erwarten, ihre Technologieführerschaft und damit ihre Preissetzungsmacht zu verlieren. Damit steigt auch in bislang weniger exponierten Branchen der Druck, schneller und konsequenter zu handeln.

Aus Sicht der Studienautoren kommt es jetzt vor allem auf Priorisierung an. Unternehmen müssen klar definieren, wo sie durch Zölle und andere Handelsbarrieren am verwundbarsten sind – und welche Maßnahmen den größten Hebel haben.

„Wer jetzt handelt, gewinnt Zeit und Erfahrung“, so Paulus. „Wer abwartet, muss später unter Druck entscheiden und zahlt am Ende mehr – im schlimmsten Fall mit Wettbewerbsfähigkeit.“

Methodik der Studie

Für den „German Economic Pulse 2025 – State of German Industry“ hat das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag von FTI-Andersch insgesamt 169 deutsche Industrieunternehmen telefonisch befragt. Im Fokus standen die Branchen energieintensive Industrie (64 Unternehmen), Maschinen- und Anlagenbau (58) sowie Automobilunternehmen und -zulieferer (47).

Die Stichprobe umfasst sowohl mittelständische Unternehmen mit einem Umsatz unter 100 Millionen Euro als auch größere Konzerne. Rund 80 Prozent der Interviews wurden mit Vorständen oder Geschäftsführern geführt, ergänzt durch Bereichsleiter aus Finance, Strategie und Vertrieb. Die Ergebnisse spiegeln damit die Einschätzungen des Top-Managements wider.

Die Studie auf einen Blick

Warum ist Protektionismus für Unternehmen heute ein größeres Risiko als früher?

Weil Handelshemmnisse häufiger, kurzfristiger und geopolitisch motivierter eingeführt werden. Das erschwert Planungssicherheit und erhöht Kostenrisiken.

Welche Maßnahmen gelten als besonders wirksam gegen Handelshemmnisse? 

Regionale Produktionsstrukturen, diversifizierte Lieferketten und ein angepasstes Produktportfolio gelten als zentrale Hebel.

Warum investieren viele Unternehmen weiterhin in den USA und China? 

Beide Märkte bleiben trotz politischer Risiken wirtschaftlich hoch attraktiv und sind zentrale Absatz- und Produktionsstandorte.

Welche Branche steht aktuell besonders unter Druck? 

Die energieintensive Industrie reagiert am konsequentesten, da Kosten- und Standortfaktoren dort besonders stark wirken.

Was sollten Unternehmen jetzt konkret tun? 

Ein klares geopolitisches Risikoprofil erstellen, Prioritäten definieren und zentrale Maßnahmen konsequent umsetzen – bevor weitere Zollschritte folgen.