In der Welt der Industriegetriebe führt der internationale Wettbewerb zu Bewegungen bei den Herstellern: Effizienzsteigerungen und Digitalisierung prägen den Wandel vom Getriebehersteller hin zu Systemlieferanten für komplette Antriebsstränge.
Torsten KirchmannTorstenKirchmann
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30 Milliarden Dollar – und kein Ende in Sicht: Der Markt für Industriegetriebe explodiert. Während Klassiker aufgerüstet werden, setzen Vorreiter auf KI, smarte Sensorik und Maßanfertigungen. Eine Branche im Umbruch.(Bild: Chaosamran_Studio - stock.adobe.com)
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Den Weltmarkt für Industriegetriebe schätzt das Marktforschungsunternehmen Global Market Insights für 2024 auf knapp über 30 Milliarden US-Dollar. Es erwartet für die nächsten zehn Jahre ein jährliches Wachstum von 4,6 Prozent und prognostiziert für 2024 einen Weltumsatz von 47,5 Milliarden US-Dollar. Ihren Stück an diesem Kuchen sichern Getriebehersteller in Deutschland zunehmend mit Innovationen und dem Wandel zu Systemlieferanten ab.
Flender bietet ein breites Spektrum an Industriegetrieben für den höheren bis höchsten Leistungsbereich. Bei Industriegetrieben hat das Unternehmen mit Flender One 2022 eine neue Getriebegeneration entwickelt und aktuell für mehr als einhundert Anwendungen auf den Markt gebracht. Sie folgt auf die Baureihe FZG, die in ihrem Leistungsbereich mit 500.000 installierten Getrieben weltweit als erfolgreichstes Industriegetriebe gilt.
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Wie verändern Daten und KI die Getriebeentwicklung?
Die Besonderheit bei der Entwicklung: „Wir haben 125 Jahre Erfahrung im Getriebebau, und vor allem sammeln wir seit gut zehn Jahren reale Betriebsdaten aus dem Feld, die maßgeblich in die Entwicklung einfließen“, erklärt Dr. Jan Reimann, Projektleiter Flender One, den besonderen Entwicklungsprozess. Das Ergebnis: Flender One ist um fünf bis zehn Prozent leichter. Die leistungsoptimierte Metaperform-Verzahnung reduziert die Verlustleistung im Vergleich zu Vorgängermodellen um bis zu 20 Prozent und ermöglicht eine um 30 Prozent höhere thermische Kapazität. Auch die Lebensdauer der Lager steigt um 80 Prozent.
„Wir setzen wenig Hardware, aber viel Intelligenz ein", sagt Julia Zundel, Head of Digital Business bei Flender.
Digitalisierung: Wenig Hardware, viel Intelligenz
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Neben diesen mechanischen Verbesserungen setzt Flender auf eine konsequente Digitalisierung. Alle Flender One Getriebe sind mit einem AIQ Core-Sensor ausgerüstet. „Wir setzen wenig Hardware, aber viel Intelligenz ein“ beschreibt Julia Zundel, Head of Digital Business bei Flender den Ansatz. Der AIQ Core Sensor misst Schwingungen, Temperatur und andere Betriebszustände und verarbeitet diese mit Hilfe der Getriebedaten zu einem eindeutigen Status. „Wir machen Condition Monitoring so einfach, wie es der Kunde will“, betont Julia Zundel. Das reicht von einer einfachen grün/rot-Leuchte über eine Einbindung in die SPS bis hin zu Handy- oder E-Mail-Benachrichtigungen. Ganz nach Kundenwunsch.
„Der Anwender braucht keine Kenntnisse in der Schwingungstechnik, sondern bekommt klare Handlungsanweisungen und Störungsmeldungen“, so die Digital-Expertin. Für einen vollständigen Einblick in die jeweilige Getriebeflotte und tiefergehende Analyse der Daten verbindet sich der Anwender mit dem AIQ Portal. Dort kommen künstliche Intelligenz und Machine Learning zum Einsatz, die die Betriebsdaten analysieren und die Ergebnisse online oder als herunterladbaren Report aufbereiten.
„Die Online-Konfiguration ist das Eingangstor und der Anwender kann innerhalb weniger Minuten sein Getriebe mit drei Parametern konfigurieren und thermisch und mechanisch berechnen", sagt Jan Reimann, Projektleiter Flender One.
Losgröße 1 automatisiert abgebildet
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Mit der neuen Generation hat Flender auch das Geschäftsmodell komplett verändert. „Wir wollten weg von einem Baukasten hin zu einem komplett variablen System, mit dem wir die Losgröße 1 automatisiert abbilden können“, so Reimann. Sämtliche Komponenten sind vollständig digital hinterlegt. „Die Online-Konfiguration ist das Eingangstor und der Anwender kann innerhalb weniger Minuten sein Getriebe mit drei Parametern konfigurieren und thermisch und mechanisch berechnen“ hebt er hervor.
Die dabei erzeugte Konfiguration geht als Datensatz durch alle weiteren Prozessschritte bis zur Auslieferung. Der Mensch greift erstmals ein, wenn die Teile aus dem Lager gegriffen werden. Ein geschlossene CAD/CAM-Kette deckt auch Sonderanfertigungen ab. „Wir liefern einen Maßanzug in der gleichen Lieferzeit wie einen Anzug von der Stange im Handel“, bringt der Projektleiter den Anspruch auf den Punkt.
Losgröße1 automatisiert abgebildet: Bei Flender One geht die vom Kunden erzeugte Konfiguration als Datensatz durch alle weiteren Prozessschritte bis zur Auslieferung. Damit erreicht das Unternehmen höchste Variabilität bei sehr kurzen Lieferzeiten.(Bild: Flender)
Die Hälfte der Getriebe ist überdimensioniert
Eine Erkenntnis aus jahrzehntelangen Datenauswertung: „Industriegetriebe bei Kunden sind im Durchschnitt um 50 Prozent überdimensioniert, hier können die Kunden deutlich sparen“, sagt der Projektleiter. Bei den Motoren und Reglern erfüllt Flender grundsätzlich den Kundenwunsch. „Wir werden unseren Konfigurator auch auf Motoren und Regelelektronik ausweiten und entsprechende Schnittstellen zu Herstellern bereitstellen“, kündigt Jan Reimann an. „Flender wird zunehmend komplette Antriebsstränge als System liefern und damit den Konstrukteuren viel Zeit sparen.“
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„Immer mehr Maschinenhersteller und Betreiber wollen technologisch darauf vorbereitet sein, die Vorteile von Industrie 4.0 im Antriebsstrang nutzen zu können", sagt Daniel Müssig, Produktmanager, Wittenstein alpha GmbH.
Wittenstein alpha: Smart Services ohne eigenen Programmieraufwand
Seit 2019 erschließen smarte Getriebe von Wittenstein alpha mit cynapse-Funktionalität die Potenziale der Digitalisierung in der Antriebstechnik. Der Hersteller für hochpräzise Servo-Antriebe hat dazu eine bauraumintegrierte Lösung entwickelt und in die Adapterplatte des Getriebes untergebracht. Sie besteht aus Temperatur- und 3-Achs-Beschleunigungssensor, Recheneinheit zur Datenvorverarbeitung, Speicherbaustein für etwa 20.000 Betriebsstunden und IO-Link-Schnittstelle für die Datenkommunikation.
„Immer mehr Maschinenhersteller und Betreiber wollen technologisch darauf vorbereitet sein, die Vorteile von Industrie 4.0 im Antriebsstrang nutzen zu können“, erläutert Daniel Müssig, Produktmanager, Wittenstein alpha GmbH und verweist darauf, dass die installierte Basis von Planetengetrieben mit cynapse stark wächst.
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In der Basisfunktion rufen Techniker die vorverarbeiteten Daten vom integrierten Speicher per Notebook ab. In der nächsten Integrationsstufe wird die cynapse-Funktionalität über einen IO-Link-Master an das Automatisierungssystem der Maschine angebunden. „Ein typisches Einsatzbeispiel für dieses Integrationsszenario ist die Überwachung von Greif- und Handlingsystemen für die Prozessoptimierung“, umreißt Daniel Müssig ein Szenario.
Die vollumfängliche Integrationsstufe ist die Nutzung der cynapse-Daten in digitalen Anwendungen, den sogenannten Smart Services. Mit Smart Services und dem Digitalisierungs-Know-how von Wittenstein alpha können Maschinenhersteller und -betreiber ohne eigenen Programmieraufwand das gesamte Potenzial erschließen, das ihnen Industrie 4.0 im Antriebsstrang bietet. „Das smarte Analysetool cynapseAnalyze-Health Index analysiert in Echtzeit die Daten des Antriebstrangs und bewertet die reale Belastung für das Getriebe. Damit haben Anwender Zugriff auf sämtliche Daten über den gesamten Lebenszyklus und können Verschleiß erkennen, bevor es zu einem Ausfall kommt“, erläutert Daniel Müssig.
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„Wir halten 400.000 Teile in unserem Lager vor, um kurze Lieferzeiten zu bieten", Gerrit Wiese, Director of Engineering bei ATEK Drive Solutions.
ATEK Drive Solutions Systemlieferant mit Eigenentwicklung
Auch andere mittelständische Getriebehersteller wie ATEK Drive Solutions stellen sich als Systempartner auf. Das Unternehmen hat bereits vor zehn Jahren den entscheidenden Schritt von einem starren Angebot an Standardgetrieben hin zu Sonder- und Anpassgetrieben vollzogen. Das Portfolio umfasst mittlerweile ein breites Spektrum an Hypoid-, Kegel, Leichtbau-, Schnecken- und Servogetrieben im Drehmomentspektrum von 05 Nm bis 10 kNm. „Wir halten 400.000 Teile in unserem Lager vor, um kurze Lieferzeiten zu bieten“, so Gerrit Wiese, Director of Engineering bei ATEK Drive Solutions.
Das Unternehmen hat in einer ständigen Entwicklungsarbeit die Effizienz der Getriebe gesteigert und den Verschleiß verringert. Darüber hinaus geht der Hersteller ebenfalls den Weg in Richtung Systemlieferant mit Eigenentwicklung und weitet in diesem Jahr sein Angebot aus: „Mit unseren ersten 24V BLDC-Servomotoren etablieren wir uns als Systemlieferant“, hebt Sebastian Sturm, Geschäftsführerbei ATEK Drive Solutions, hervor. Parallel bereitet er mit seinem Team auch die Entwicklung der entsprechenden Regelelektronik vor.
ATEK Kegelradgetriebe mit hochwertiger Spiralverzahnung aus gehärtetem Einsatzstahl sind besonders langlebig und robust.(Bild: ATEK Drive Solutions)
ATEK Drive Solutions beliefert das gesamte Industriespektrum und ist im Bereich Lebensmittel und Pharma mit Getrieben im Hygienic Design sehr erfolgreich. „Wir sehen aktuell außerdem eine sehr gute Nachfrage aus Anwendungen der Intralogistik und Defense“, beschreibt Gerrit Wiese die aktuelle Lage.
Harmonic Drive: Motorgröße von 100 Nm auf 1,2
Wellgetriebe von Harmonic Drive SE sind eine spezielle Gattung von Präzisionsgetrieben, die sich in zahlreichen Anwendungen fest etabliert haben. Harmonic Drive Getriebe-Einbausätze bestehen aus nur drei Bauteilen: Circular Spline, Flexspline und Wave Generator. Sie kommen überall dort zum Einsatz, wo der Bauraum begrenzt ist, hohe Lasten aufgenommen werden müssen und spielfreie Bewegungsgenauigkeit entscheidend sind. Mit der Weiterentwicklung zur Triangle-Technologie hat das Unternehmen die Zahl der Zahneingriffsbereiche von zwei auf drei erhöht und damit die Verdrehsteifigkeit, Übertragungsgenauigkeit und Dynamik weiter deutlich verbessert. „Die Technologie ist noch weniger empfindlich gegenüber Schwingungen, beispielsweise in Holzbearbeitungsmaschinen, wodurch eine höhere Oberflächengüte der Werkstücke erreicht werden kann.“
„Die Zukunft ist mechatronisch, darum stellen wir unseren Kunden einen kompletten Antriebsstrang bereit", sagt Sebastian Finhold, Produktmanager mechanische Produkte bei Harmonic Drive SE.
Enormes Einsparpotenzial beim Antriebsstrang
Mit Untersetzungen von 1: 30 bis 1:160 eröffnen Wellgetriebe ein enormes Einsparpotenzial beim Antriebsstrang. „Für Anwendungen, bei denen ein Motor 100 Nm aufbringen muss, reichen in Kombination mit einem Harmonic Drive kompakte Motoren mit einer Spitzenleistung von lediglich 1,2 Nm, der Antriebsstrang wird dadurch viel kompakter“, rechnet Sebastian Finhold, Produktmanager mechanische Produkte bei Harmonic Drive SE, vor. Bremswiderstände und Regelelektronik können dementsprechend kleiner dimensioniert werden. Gleichzeitig ist die Bewegungsgenauigkeit sehr hoch.
„In der Elektronikfertigung müssen Roboter Bauteile mit extrem hoher Präzision platzieren. Harmonic Drive Getriebe ermöglichen dabei eine spielfreie, hochgenaue Bewegung mit Wiederholgenauigkeiten im Bereich weniger Bogensekunden. Dadurch trifft der Roboterarm stets exakt dieselbe Position - auch nach tausenden Zyklen und unter Lastwechseln. Das sorgt für stabile Prozesse, weniger Ausschuss und höchste Produktionsqualität“, erklärt Sebastian Finhold die Genauigkeit.
Verbesserte Verdrehsteifigkeit, Übertragungsgenauigkeit und Dynamik. Harmonic Drive mit Triangle-Technologie.(Bild: Harmonic Drive SE)
Mehr als ein Drittel des Umsatzes mit mechatronischen Produkten
Harmonic Drive SE integriert ebenfalls Sensorik wie den kompakten Drehmomentsensor in die Getriebe. Anwender haben damit genaue Daten über die reale Belastung der Antriebsachse. Dies ermöglicht Kollisionserkennung und somit eine sichere Zusammenarbeit von Mensch und Roboter, wie auch die handgeführte Programmierung des Roboters (direct teach-in). In Operationsrobotern kann das Signal für ein haptisches Feedback an den Chirurgen genutzt werden. Ebenfalls kann anhand der Lastinformation die Restlebensdauer des Antriebs abgeleitet und einen Austausch gezielt eingeplant werden. „Das ist in Branchen wie der Halbleiterindustrie besonders wichtig, weil dort Ausfälle zu enormen Kosten führen“, gibt der Produktmanager zu bedenken.
In der Medizintechnik punkten die Getriebe mit einer hohen Überlastfähigkeit vom Faktor 2 zum Spitzenwert und für Trockenräume, wie sie in Batterieherstellung genutzt werden, hat Harmonic Drive spezielle Legierungen entwickelt. Selbst im Weltraum kommen die Wellgetriebe zum Einsatz.
Mechatronik als Gamechanger im Wettbewerb
„Der Großteil unserer Getriebe ist kundenspezifisch angepasst“, zeigt Sebastian Finhold auf. Das betrifft vor allem die Feinabstimmungen mit den eingesetzten Motoren verschiedenster Hersteller. Mit eigenen Servomotoren reduziert das Unternehmen diesen Aufwand. „Mehr als ein Drittel unseres Umsatzes generieren wir bereits mit mechatronischen Produkten“, beschreibt er den Trend. „Die Zukunft ist mechatronisch, darum stellen wir unseren Kunden einen kompletten Antriebsstrang bereit.“ Der neu entwickelte Servoantrieb mit integriertem Antriebsregler IHD eröffnet neue Möglichkeiten, die Performance im System zu verbessern.
Im Getriebemarkt wird ganz offensichtlich nach einem neuen System gespielt. Das macht den Wettbewerb äußerst spannend, die Lösungen effizienter und intelligenter. Eine Win-win Situation.
1. Was bedeutet 'smarte Systeme' im Kontext von Industriegetrieben? Smarte Systeme in Industriegetrieben integrieren Sensorik, Datenverarbeitung und KI-Algorithmen, um Betriebszustände zu überwachen, Zustandsanalysen zu liefern und proaktiv Wartungsempfehlungen zu geben. (z. B. via AIQ Core Sensor bei Flender)
2. Warum setzen Hersteller zunehmend auf Systemlieferanten statt auf klassische Getriebe? Weil mit dem Wandel zum Systemlieferanten komplette Antriebsstränge geliefert werden können, was für Kunden Zeit spart, Integration vereinfacht und Wettbewerbsvorteile verschafft.
3. Welche Vorteile bringt die Digitalisierung von Getrieben konkret? Einige Vorteile sind:
Reduzierte Verlustleistung (z. B. bis zu 20 Prozent weniger Verluste)
Erhöhte thermische Belastbarkeit
Längere Lebensdauer der Lager (im Artikel z. B. +80 Prozent)
Echtzeit-Überwachung, Alarmfunktionen und Handlungsempfehlungen für den Nutzer
4. Wie funktioniert das Konfigurationsmodell für Getriebe bei Flender One? Der Nutzer konfiguriert via Online-Tool das Getriebe mit wenigen Parametern (mechanisch und thermisch). Diese Konfiguration wird durch die gesamte Prozesskette als Datensatz geleitet — von Fertigung bis Auslieferung — und erlaubt auch Sonderanfertigungen bei kurzer Lieferzeit.
5. In welchem Maße sind Industriegetriebe heute überdimensioniert? Laut dem Artikel sind Industriegetriebe im Kundenbetrieb im Schnitt etwa 50 Prozent überdimensioniert ausgelegt — das heißt: viele Getriebe könnten kleiner, effizienter und günstiger ausgeführt werden.
6. Welche Rolle spielt Sensorik bei Wittenstein alpha? Wittenstein alpha integriert Sensorik (Temperatur, 3-Achsen-Beschleunigung) in das Getriebe über die 'cynapse'-Funktionalität. Die Sensorik liefert Daten, die vorverarbeitet werden, und kann per IO-Link mit dem Automatisierungssystem verbunden werden.
7. Was ist die Triangle-Technologie von Harmonic Drive und welchen Nutzen bringt sie? Die Triangle-Technologie erweitert die Zahneingriffsbereiche von zwei auf drei, was die Verdrehsteifigkeit, Übertragungsgenauigkeit und Dynamik verbessert. Sie macht das System robuster gegenüber Schwingungen und trägt zu hoher Präzision und geringer Empfindlichkeit bei.