Die Magnetschwebebahn Transrapid gilt vielen als Leuchtturm deutscher Ingenieurskunst – und als Beispiel für ihr Scheitern. Zu Unrecht, denn 16 Jahre nach dem Rückzug von ThyssenKrupp aus dem Transrapid erobert die Transrapid-Technologie die industrielle Montage: Linearmotorsysteme ermöglichen extrem präzise, schnelle und flexible Produktionsprozesse – ein entscheidender Schritt in Richtung automatisierte Fertigung.
Die Automatisierung von Montageprozessen rückt in der Prioritätenlisten von Unternehmen immer höher. Rationalisierungsgewinne sind dabei nur ein Aspekt, der Fachkräftemangel oft ein viel schwerwiegenderer. Nach Berechnungen des VDMA Competence Center Arbeitsmarkt werden in Deutschland bis 2030 voraussichtlich drei Millionen Menschen weniger arbeiten als heute. Dadurch entsteht eine Lücke von 4,1 Milliarden Arbeitsstunden. Schon heute spüren selbst überdurchschnittlich gut zahlende Industriebetriebe den Fachkräftemangel schmerzlich, vor allem bei Ingenieuren, aber auch in der Montage. Das erhöht den Druck zur Automatisierung.
Wie funktioniert die Transrapid-Technik in der Montage?
Eine Herausforderung, die immer mehr Automatisierungshersteller mit Lösungsbaukästen für linearmotorisch angetriebene Montagelinien lösen. Sie haben die Transrapid-Technik auf Kurztaktanwendungen übertragen. Auf geschlossenen oder offenen Strecken integrieren sie Linearmotoren als Schienen mit individuell ansteuerbaren Sekundärteilen. Damit ersetzen sie aufwändige mechanische Konstruktionen mit Förderbändern und gewinnen durch die Verlagerung von Funktionen in die Software eine hohe Flexibilität für variantenreiche Montageaufgaben.
Einschaltfertiges und programmierfreies Umlauf-System
„Der Active Mover ist ein fertiges, sofort einsetzbares Umlauf-System mit extrem geringem Konstruktionsaufwand“, beschreibt Achim Hellerich das System, das er als Produktmanager bei Bosch Rexroth betreut. Das Transfersystem kann überall dort eingesetzt werden, wo Produkte besonders schnell und präzise transportiert werden müssen. Es besteht aus geraden Strecken- und Kurveneinheiten mit vertikal eingebauten verschleißarmen Linearmotoren.
Sie bilden je nach Kombination der Strecken ein geschlossenes Oval oder Kreis. Daran sind von außen die einzelnen Prozessstationen frei zugänglich angebracht. Die Werkstückträger schleusen die Werkstücke mit einer Wiederholgenauigkeit von 0,01 mm durch die Arbeitsschritte. Sie können auch mehrere Positionen innerhalb einer Station nacheinander anfahren und die Fahrtrichtung ändern.
Welche Vorteile bringt die Linearmotor-Technik?
Ein Linearmotor ist eine elektrische Antriebsmaschine, die sich von herkömmlichen rotierenden Motoren unterscheidet. Die Hauptmerkmale eines Linearmotors sind:
Funktionsweise
- Erzeugt eine geradlinige Bewegung (Translation) statt einer Drehbewegung
- Besteht aus einem beweglichen Teil (Läufer) und einem feststehenden Teil (Stator)
- Der Läufer bewegt sich entlang einer geraden oder gekurvten Bahn
Vorteile
- Hohe Dynamik und Beschleunigung (bis zu 6 g)
- Hohe Verfahrgeschwindigkeiten (bis zu 13 m/s)
- Direkte Umsetzung der Bewegung ohne Übertragungselemente
- Nahezu verschleiß- und wartungsfrei
Für Achim Hellerich ist Einfachheit im Umgang besonders wichtig. Anwender konfigurieren ihr System mit einer CAD-freien Planungssoftware, die alle elektrischen und mechanischen Elemente berücksichtigt. In der vorkonfigurierten Steuerung parametrieren sie jeden einzelnen Werkstückträger ohne Programmieraufwand.
„Inbetriebnehmer geben die Abstände der einzelnen Werkstückträger ein, Zielpositionen, Beschleunigungs- und Bremsrampen“, zählt Achim Hellerich auf. „Die integrierte Kollisionskontrolle verhindert Eingabefehler und mit einem Identsystem beim Einschleusen der Produkte können vollautomatisch Varianten abgebildet werden.“
„Die integrierte Kollisionskontrolle verhindert Eingabefehler", sagt Achim Hellerich, Produktmanager Active Mover bei Bosch Rexroth.
Wie reduziert die Technologie die Rüstzeiten in der Montage?
Active Mover eignen sich für das Handling von Lasten bis zu zehn kg und kommen in pharmazeutischen Anwendungen mit Reinraumanforderungen ebenso zum Einsatz wie in der Elektronikfertigung oder der allgemeinen Montage. Ein Hersteller von Druckmessgeräten hat mit dem System die variantenreiche Montage von Rundtaktmaschinen auf Active Mover umgestellt und die Rüstzeiten um mehr als 50 Prozent reduziert.
Eine andere Anwendung kombiniert bis zu 37 Bearbeitungsstationen auf 22 Meter Umlaufstrecke und bei der Montage von Sicherungsschaltern montiert die Linie bis zu 40.000 Produkte in 94 Varianten pro Tag. „Wer Präzision, Schnelligkeit, Belastbarkeit und Flexibilität in der Montage einfach umsetzen will, hat mit Active Mover eine hervorragende Lösung“, ist sich Achim Hellerich sicher.
Hohe Freiheitsgrade für eigene Ideen in der Automation
Beckhoff, Spezialist für Automatisierungssysteme auf PC-Basis, legt den Schwerpunkt des linearen Produkttransportsystems XTS auf die individuelle Anpassbarkeit der jeweiligen Anwendung. „Unsere Kunden haben bereits mehr als 3.500 reale Anwendungen weltweit umgesetzt“, berichtet Thomas Beckhoff, Produktmanager XTS bei der Beckhoff Automation GmbH & Co. KG.
Das System besteht ebenfalls aus frei kombinierbaren Strecken und Kurven für geschlossene, aber auch offene Linien. Die Sekundärteile, bei Beckhoff Mover genannt, sind einzeln ansteuerbar. „Für unsere Software ist jeder Mover eine eigene Servoachse mit den bekannten Funktionalitäten, zu denen sich erweiterte Motion-Control-Funktionen gesellen. Der Regelzyklus von 250µs ermöglicht die präzise Synchronisation auf externe Prozesse“, hebt der Produktmanager hervor.
„Für unsere Software ist jeder Mover eine eigene Servoachse mit den bekannten Funktionalitäten, zu denen sich erweiterte Motion-Control-Funktionen gesellen", sagt Thomas Beckhoff, Produktmanager XTS bei Beckhoff.
Intelligente Werkstückträger kommunizieren drahtlos
Eine Besonderheit der Beckhoff-Lösung ist NCT. Eine spezielle, aber voll kompatible Motoreinheit enthält Elektronik, die nicht nur Strom, sondern auch Daten überträgt. „NCT macht aus passiven Movern aktive Werkstückträger, denn zusätzlich zur Energieversorgung überträgt es drahtlos Informationen für Sensoren und Aktoren auf den Mover.“ Damit können die Werkstückträger während des Transports Sensordaten zum Werkstück erfassen, eine Vakuumpumpe betreiben oder andere Aufgaben übernehmen.
Mit dem Track Management ermöglicht Beckhoff den fliegenden Wechsel von Movern zwischen verschiedenen XTS-Systemen während des Prozesses. „Dazu können Anwender parallel angeordnete Teilstrecken verschieben. Die Teilstrecke mit Mover fügt sich direkt in die andere Linie ein und der Mover fährt dort mit seinem programmierten Bewegungsprofil ein“, weist der Produktmanager auf den Vorteil hin.
Anwender können das Track Management aber auch nutzen, um Schlecht-Teile kontrolliert auszuschleusen. Das erspart beispielsweise bei Pharmaanwendungen sehr viel Zeit. Zusätzlich können die Strecken gestackt, also mehrfach übereinander oder hintereinander angeordnet werden und koordiniert gemeinsame Bewegungen ausführen.
Die hoch präzise Synchronisation ermöglicht Gantry Lösungen, um schwerere Werkstücke zu bewegen. Mit hoher Dynamik sind bis zu zehn kg je Mover möglich, bei geringeren Fahrgeschwindigkeiten sogar 20 kg – was in der Kopplung also 40 kg Produktgewicht handhabbar macht.
„Mit XTS können Maschinenbauer und Endanwender eigene Ideen frei umsetzen, auf die noch kein anderer gekommen ist“, bekräftigt Thomas Beckhoff.“ In einer Anwendung wurden beispielsweise fünf Maschinen durch eine ersetzt, was dem Kunden rund 30 Prozent Platzersparnis brachte.“
Breites Leistungsspektrum in der Linearmotortechnik
Rockwell Automation bietet auf Basis der Linearmotortechnik eine ganze Familie rund um die Independent Cart Technology an, von MagneMover Lite für kleine Werkstücke über iTrak bis hin zum Quick Stick. „Sie ermöglichen eine nahtlose Anpassung und Umstellung von Maschinen auf verschiedene Produktformate“, sagt Ulrich Arlt, EMEA Business Manager Motion Control bei Rockwell Automation. „Dies hilft unseren Kunden, nicht nur die Produktionsflexibilität zu erhöhen, sondern auch die Effizienz zu steigern und letztlich schneller auf Marktveränderungen zu reagieren“.
„Eine nahtlose Anpassung und Umstellung von Maschinen auf verschiedene Produktformate", sagt Ulrich Arlt, EMEA Business Manager Motion Control bei Rockwell Automation.
Optional: Manuelle Arbeitsplätze in Gesamtsystem integriert
Das Unternehmen integriert die Motion Control in die Gesamtarchitektur. „Mit dem neuen iTrak 5750 verschmelzen Programmierung und Steuerung von Standard-Servoachsen und iTrak-Movern“, so der Business Manager Motion Control. Das ermöglicht ein durchgängiges Datenmanagement, bei dem alle Informationen in der SPS zusammenlaufen und für übergeordnete Systeme zugänglich sind.
Wie auch bei den anderen Anbietern bieten die Systeme von Rockwell mit zertifizierten Sicherheitsfunktionen die Option, manuelle Arbeitsplätze in das Gesamtsystem zu integrieren. Bei allen drei vorgestellten Lösungen können darüber hinaus Anwender Simulationstools nutzen, um die Anlagen zu konfigurieren, virtuell zu testen und zu optimieren.
Unkompliziert auf neue Formate umrüsten
Auch Schneider Electric bietet mit dem Transportsystem Lexium MC12 multi carrier eine Lösung für hochautomatisierte Anlagen, die schnell und effizient produzieren. „Vor allem lassen sie sich auch unkompliziert auf neue Formate umrüsten“, betont Arne Jaenicke, Teamleiter Offer Management DACH, Industrial Automation bei Schneider Electric.
Das Transportsystem übernimmt das Bewegen, Positionieren und Gruppieren von Objekten in diskreten Prozessen. „Durch den Einsatz modernster Linear-Motion- und Digital-Twin-Technologien eröffnet es völlig neue Möglichkeiten für die Entwicklung schnellerer und flexiblerer Maschinen, die weniger Platz benötigen,“ fasst Arne Jaenicke zusammen.
„Durch den Einsatz modernster Linear-Motion- und Digital-Twin-Technologien eröffnet es völlig neue Möglichkeiten für die Entwicklung schnellerer und flexiblerer Maschinen, die weniger Platz benötigen", sagt Arne Jaenicke, Teamleiter Offer Management DACH, Industrial Automation von Schneider Electric.
Automatisierungs-Potenzialanalyse: Wie viel ist sinnvoll?
Die linearmotorischen Montagelinien sind ein aktuelles Beispiel für moderne Automationslösungen. Aber die Bandbreite der Möglichkeiten ist anwendungsabhängig wesentlich größer und Anwender können aus einem riesigen Angebot wählen. Doch welcher Prozess lässt sich technisch und wirtschaftlich sinnvoll automatisieren?
Dies zu entscheiden, stellt viele Unternehmen vor Herausforderungen, weil sie beispielsweise zeitlich oder personell nicht genügend Ressourcen für diesen Themenkomplex haben und somit nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreifen können.
„Wir haben mit der Automatisierungs-Potenzialanalyse, APA, eine strukturierte wissenschaftliche Methodik entwickelt, mit der Unternehmen Automatisierungspotenziale objektiv und systematisch bewerten können. Die Prozesse werden in ihrer technischen Automatisierbarkeit, aber auch über die Prozesszeiten hinsichtlich ihres wirtschaftlichen Einsparpotenzials bewertet“, berichtet Katharina Barbu, Product Ownerin APA am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart.
Die Wirtschaftsingenieurin hat direkt nach dem Bachelor bei einem mittelständischen Unternehmen Praxiserfahrungen als Montageplanerin gesammelt und arbeitet seit Abschluss ihres Masters schon einige Jahre im Forschungsbereich Automatisierung und Robotik.
Systematischer Einstieg in die Automatisierung
Die APA ist der systematische Einstieg in die Automatisierung. Anhand verschiedener Kriterien prüfen die Automatisierungsexperten die 'Fitness for Automation' der einzelnen Prozesse und gewichten verschiedene Kriterien entsprechend dem Kundenbedarf. Aufbauend auf diesen Ergebnissen können dann die Konzeption, Machbarkeitsuntersuchungen und eine Realisierung erfolgen.
„Mit dem anhaltenden Trend des ‚High Mix Low Volume‘, also der variantenreichen Montage, werden Fertigungsplaner zukünftig mehr in flexiblen Matrixproduktionssystemen denken und planen müssen“, ergänzt die Wissenschaftlerin. „Ein konkretes Beispiel: Wenn im Produktmix eine Vielzahl ähnlicher Schraubprozesse zu erledigen ist, dann kann es sich lohnen, diese Prozesse an einer Station zusammenzufassen und dort zu automatisieren. Hierzu kann die APA als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden.“
„Wir haben mit der Automatisierungs-Potenzialanalyse, APA, eine strukturierte wissenschaftliche Methodik entwickelt, mit der Unternehmen Automatisierungspotenziale objektiv und systematisch bewerten können", sagt Katharina Barbu vom Fraunhofer Institut IPA.
Das Spektrum der Projekte, die das APA-Team am Fraunhofer IPA bereits umgesetzt hat, reicht von Unternehmen, die noch nie einen Roboter eingesetzt haben, bis hin zu Anwendern mit ausgiebiger Automatisierungserfahrung. „Wir betrachten die Prozesse immer ganzheitlich.
Denn am Ende ist Automatisierung ein Werkzeug und kein Selbstzweck“, fasst Katharina Barbu den Ansatz zusammen. Langfristig werden Unternehmen aber um eines nicht herumkommen: „Bei der Entwicklung neuer Produkte schafft nur ‚Design for Automation‘, also automatisierungsgerechtes Design, schon in der Produktentstehung die Basis für eine optimale Automatisierung in der Montage“, ist Katharina Barbu sicher.
Wo wird die Transrapid-Technik eingesetzt?
Der Transrapid als Verkehrsmittel mag gescheitert sein, aber im Maschinenbau bietet seine Technologie zahlreiche Vorteile. In der Kurztaktmontage steigern linearmotorische Transfersysteme die Produktivität und Flexibilität. Sie passen nicht zu jeder Anwendung, aber für produzierende Unternehmen aller Größen ist es angesichts des demografischen Wandels essenziell, sich frühzeitig mit der Montageautomatisierung zu beschäftigen.
überarbeitet von: Dietmar Poll
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