Ergonomie

Prototyp eines seilzugbasierten Assistenzsystems. - (Bild: Ludmilla Parsyak, denis_smirnov – stock.adobe.com/Fraunhofer IAO)

Ergonomie am Arbeitsplatz ist längst nicht mehr nur auf den Büroalltag beschränkt. Sie erfreut sich auch in der Industrie einer stetig wachsenden Beliebtheit, schließlich wollen Unternehmen Fehlzeiten und Berufsunfähigkeiten ihrer Mitarbeiter vorbeugen. Die Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter rückt auch zunehmend ins Bewusstsein der Firmen, da die deutsche Bevölkerung schrumpft und immer älter wird.

„Unternehmen konkurrieren inzwischen um Mitarbeiter. Somit spielt auch die Ergonomie eine große Rolle, weil ein ergonomisch gestalteter Arbeitsplatz für Mitarbeiter attraktiver ist“, sagt Prof. Dr. phil. Klaus Bengler vom Lehrstuhl für Ergonomie an der Technischen Universität München (TUM).

Der Ergonomie gehe es darum, möglichst optimale Arbeitsbedingungen für den Menschen zu schaffen. „Darunter fällt die Gestaltung von Arbeitsplätzen mit ihren Umweltfaktoren wie Temperatur, Beleuchtung, Lärm oder Vibration, aber auch die Gestaltung von Arbeitsmitteln wie Werkzeuge oder auch Software. Auch die Arbeitsabläufe sind wichtig: die Verteilung der Arbeit im Unternehmen, die Organisationsstrukturen und das Training des Personals“, so Bengler.

Die Verankerung der Ergonomie in großen deutschen Unternehmen, vor allem in der Automobilindustrie, sei inzwischen sehr stark. „Wenn man die Ergonomie vernachlässigt, kann das außerordentlich hohe Kosten verursachen, vor allem durch Fehlzeiten, aber auch aufgrund sinkender Qualität und sinkender Produktionsleistungen“, sagt der Münchner Ergonom.

Weniger Fehlzeiten

Ergonomie ist jedoch nicht nur ein betriebswirtschaftlich sinnvolles Thema, das Arbeitsgesetz verlangt sie ebenfalls. Risiken für den Bewegungsapparat sind wegen der großen Häufigkeit von arbeitsbezogenen Muskel-Skelett-Erkrankungen besonders zu beachten. Zwar zeigte sich 2017 im Hinblick auf nahezu alle Krankheitsarten mit Ausnahme von psychischen Störungen ein leichter Rückgang der Fehlzeiten, doch entfiel laut der Techniker Krankenkasse mit 2,82 Tagen pro Versichertem der größte Anteil immer noch auf Muskel-Skelett-Erkrankungen. Rückenschmerz war dabei erneut die wichtigste Einzeldiagnose.

„Schwere Lasten zu bewegen, trägt zu dem Beschwerdemuster bei – aber auch ein hoher Zeitanteil, der sitzend verbracht wird, denn die informatorischen Tätigkeiten haben auch in der Produktion zugenommen“, so Bengler. Schlecht gestaltete Arbeitsplätze oder falsches Verhalten führten dann häufig zu Rückenbeschwerden.

So sah der Hubtisch in der Reifenproduktion bei Continental vor und nach der ergonomischen Optimierung des Arbeitsplatzes aus: Während der Formenreinigung mussten die Mitarbeiter ­vorher eine sehr belastende, weit nach vorne geneigte Körperhaltung einnehmen. Jetzt ist die Arbeitsfläche durch die Höhen- und ­Neigungsverstellung individuell einstellbar, so dass der Mitarbeiter nun entweder im Sitzen oder Stehen arbeiten kann.
So sah der Hubtisch in der Reifenproduktion bei Continental vor und nach der ergonomischen Optimierung des Arbeitsplatzes aus: Während der Formenreinigung mussten die Mitarbeiter ­vorher eine sehr belastende, weit nach vorne geneigte Körperhaltung einnehmen. Jetzt ist die Arbeitsfläche durch die Höhen- und ­Neigungsverstellung individuell einstellbar, so dass der Mitarbeiter nun entweder im Sitzen oder Stehen arbeiten kann. - (Bild: Continental)

„Die optimale Lösung ist, das Heben schwerer Lasten sowie falsche Bewegungsmuster bewusst zu vermeiden und zwischen Sitzen, Gehen und Stehen zu wechseln“, sagt Bengler. Aber auch Greifräume müssten ideal gestaltet sein. Ein Mitarbeiter sollte in wenigen Handgriffen seine Arbeitsplatzposition optimal einrichten können. „Je ungünstiger eine Haltung ist, desto unkonzentrierter und unmotivierter wird der Mitarbeiter während des Arbeitstages werden; über kurz oder lang kann die Fehlhaltung auch zu Ausfällen führen.“

Werkzeugfrei verstellbare Arbeitsplätze

Modulare, höhenverstellbare Arbeitsplatzsysteme bieten etwa Bott, Suspa oder Treston. Alle drei Firmen verzeichnen eine gesteigerte Nachfrage nach ihren Produkten. Bott produziert neben Fahrzeugeinrichtungen auch Montagearbeitsplätze, ganze Arbeitsplatzsysteme und Fertigungslinien.

„Was bei unseren Kunden immer sehr gut ankommt, ist, dass die Materialablagen werkzeugfrei mit der Hand verstellbar sind“, sagt Axel Theurer von Bott. In die Tische und Regale ließen sich auch IT-Lösungen wie Monitore mit Montageanleitungen einbinden.

„Diese Assistenzsysteme denken mit, unterstützen bei den einzelnen Arbeitsschritten und helfen, Fehler zu vermeiden“, so Theurer.

Bei der Firma Suspa werden am meisten die elektromechanischen Movotec-SMS-Hubsysteme angefragt. Sie bieten eine stufenlose und vollelektrische Höhenverstellung für schwere Lasten bis 150 kg Hebeleistung je Hubsäule. Die Hubsäulen von Suspa lassen sich in die zwei der gängigsten deutschen Montageprofile der Firmen Bosch und Item integrieren.

Es gibt sie jedoch auch als eine kompakte Nachrüsteinheit für bestehende Arbeitsplatzsysteme. Treston hat in seinem Sortiment Tische, die per Inbusschraube, Handkurbel oder elektrisch höhenverstellbar sind. Zum Einsatz kommen sie vor allem in der Montage, aber auch immer mehr in der Logistik. Daneben bietet die Firma individuell einstellbare Beleuchtungssysteme.

„Damit ein Werkstück ausreichend ausgeleuchtet, ohne Reflektion und ohne Schattenwurf ist. Konzentriertes, präzises Arbeiten benötigt optimale Lichtverhältnisse. Je älter die Mitarbeiter werden, desto wichtiger wird die Beleuchtung“, weiß Dirk Jonsson, Geschäftsführer von Treston.

Continental verbessert Arbeitsplätze strategisch

Eine Firma, die seit 2005 strategisch ihre Arbeitsbedingungen verbessert, ist das Technologieunternehmen Continental. Für sein konzernweites Ergonomie- und Demografie-Programm ‚Gesunde Arbeitsplätze für jedes Alter‘ hat ihm die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (EU-OSHA) den Good Practice Award verliehen.

Continental verfolgt das Ziel, die Beschäftigten unabhängig von Alter und Geschlecht flexibel einsetzen zu können. Eine optimale Arbeitsplatzgestaltung soll dabei junge wie ältere Mitarbeiter vor Überbelastungen schützen.

„Wir sind bemüht, Arbeitsplätze zu schaffen, die, wenn ein Mitarbeiter ausfällt, auch von einem anderen Mitarbeiter besetzt werden können. Das bedeutet, dass der Platz im Hinblick auf Körperproportionen und -rotationen, Greifräume und -höhen individuell einstellbar sein muss“, sagt Prof. Christian Feldhaus, Leiter des Bereichs Corporate Safety & Health bei Continental.

Zwei Aspekte stünden beim Thema Ergonomie für die Firma im Mittelpunkt: einerseits die Verantwortung, alles für die Gesundheit der Mitarbeiter zu tun. Andererseits wirke sich die Initiative auch auf den Unternehmenserfolg aus. „Ergonomie ist eine klassische Win-Win-Situation,“ so Feldhaus.

Bedeutet mehr Ergonomie auch immer mehr Effizienz? „Kurzfristig gesehen sicher nicht“, sagt der Ergonom. Viele Arbeitsplätze würden erst mal ineffizienter, in der langfristigen Perspektive jedoch wirtschaftlicher, weil sich die Qualität erhöhe und die Ausfallquoten sänken. „Wir müssen Arbeitsbedingungen schaffen, die 48 Wochen im Jahr über 40 Berufsjahre mühelos erfüllbar sind. Und wenn daraus nur 90 Prozent Arbeitsleistung resultieren, hat man mehr erreicht als mit einem Arbeitsplatz, bei dem man zehn Jahre lang 100 Prozent bekommt, der Mitarbeiter aber dann ein halbes Jahr wegen eines Bandscheibenvorfalls ausfällt“, sagt Feldhaus.

Chairless Chair im Test

Am Standort Korbach (links) hat Continental den Chairless Chair getestet, eine Sitzhilfe, die am Körper getragen wird. Das Exoskelett entlastet Knie, Rücken und Nacken. Die Karmeliten Brauerei (rechts) testete ein Exoskelett zum Heben von Bierkisten. Leider sind die Anschaffungskosten von rund 40.000 Euro zu hoch für die mittelständische Firma.
Am Standort Korbach (links) hat Continental den Chairless Chair getestet, eine Sitzhilfe, die am Körper getragen wird. Das Exoskelett entlastet Knie, Rücken und Nacken. Die Karmeliten Brauerei (rechts) testete ein Exoskelett zum Heben von Bierkisten. Leider sind die Anschaffungskosten von rund 40.000 Euro zu hoch für die mittelständische Firma. - (Bild: Continental/Karmeltiten Brauerei)

Am Standort Korbach hat Continental den Chairless Chair getestet, eine Sitzhilfe, die man am Körper trägt. Das Exoskelett entlastet Knie, Rücken und Nacken. „Zum Chairless Chair gibt es vielversprechende Ansätze. Aktuell sind wir noch in der Probephase“, erklärt Feldhaus. Die Reaktion der Mitarbeiter sei sehr gemischt. Viele sagten, dass sie sich anfangs behindert fühlen, der Chairless Chair sie unflexibler mache. „Sie müssen den Mitarbeitern Zeit geben, sie überzeugen, es anders zu machen, als sie es zehn, 20 Jahre gewohnt waren“, weiß der Continental-Ergonom.

Das kann auch Christoph Kämpf, Geschäftsführer der Karmeliten Brauerei in Straubing, bestätigen: „Nichts klebt härter als Gewohnheit.“ Nachdem er in Produktion einen Beitrag über Exoskelette gelesen hatte, die beim Heben schwerer Lasten helfen, war sein Interesse geweckt. „Eine Kiste Bier wiegt etwa 17 Kilo. Wenn man mehrere hundert Kisten pro Tag bewegt, geht das auf den Körper.“

Exoskelett verringert Last beim Heben merklich

Kämpf bestellte ein Exoskelett zur Probe. „Für meine Mitarbeiter war der Test zunächst sehr ungewohnt. Wenn man sich viele Jahre auf eine bestimmte Art gebückt hat, dann ist eine anders gelagerte Bewegung erst mal fremd“, sagt Kämpf. Auch er hat das Exoskelett ausprobiert: „Innerhalb kürzester Zeit spürt man das Skelett-Gewicht von acht, neun Kilo gar nicht mehr. Die Belastung für den Rücken beim Heben ist merklich geringer“, so der Geschäftsführer.

Das Fraunhofer IAO in Stuttgart arbeitet derzeit an einem Assistenzsystem, das Bewegungsfreiheit und Flexibilität des Nutzers zu jedem Zeitpunkt garantieren soll. ‚SensHand‘ ist ein seilzugbasiertes System, das etwa Kommissionierer unterstützen soll: Ein intuitiv bedienbarer, kraftführender Sensorhandschuh wird mit einem kraftunterstützenden Seilzug kombiniert und hilft so beim Heben von Lasten.

Ergonomische Hilfen werden also immer anwendbarer und beliebter. Warum aber gehen dann die Fehlzeiten nicht deutlicher zurück?

„Der Mensch ist immer weniger körperlich trainiert und robust. Früher hat man sich in seiner Freizeit viel mehr bewegt. Heute ist man nicht mehr so widerstandsfähig gegenüber physischen Belastungen am Arbeitsplatz“, sagt Harald Widlroither, Leiter Human Factors Engineering des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Zudem führe die fortschreitende Automatisierung und Digitalisierung dazu, dass Mitarbeiter in einer höheren Frequenz gleichbleibende, gleichförmige Tätigkeiten zu verrichten hätten.

Monotonie ist Gift

„Und Monotonie ist Gift für Körper und Geist“, so Widlroither. Hier könnten kollaborierende Roboter helfen. Unter ergonomischen Gesichtspunkten hat die Arbeitsteilung viel Gutes: Die Maschinen können Aufgaben übernehmen, die für die Mitarbeiter aufgrund ungünstiger Haltungen oder monotoner Tätigkeiten zu Belastungen führen.

„Komplexere Tätigkeiten verbleiben dann beim Mitarbeiter. Die neueste Robotergeneration kann außerdem direkt neben Menschen agieren, da sie mithilfe von Sensoren Menschen erkennen und ihnen ausweichen kann oder konstruktiv keine zu hohen Kräfte aufbringt“, sagt Prof. Klaus Bengler von der TUM.

Besteht damit aber nicht die Gefahr, dass der Mitarbeiter irgendwann durch einen Roboter ersetzt wird? Bengler winkt ab: „Ich mache mir da als Ergonom keine Sorgen. In Deutschland werden sehr komplexe und variantenreiche Produkte herstellt. Ein Roboter kann nicht alles. Für bestimmte Arbeitsschritte werden auch in Zukunft immer noch Menschen gefragt sein.“

Sie möchten gerne weiterlesen?