Ohne Zweifel gibt es Themen und Herausforderungen mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Ohne Zweifel gibt es Themen und Herausforderungen mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland und dessen notwendige Transformation. (Bild: MADMAT – stock.adobe.com)

125 Milliarden Euro an Direktinvestitionen zogen Unternehmen im vergangenen Jahr aus Deutschland ab. Das hat Christian Rusche, Senior Economist für Wettbewerb und Strukturwandel am Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) auf Grundlage von Zahlen der Industriestaatenorganisation, OECD, errechnet. Bei dem Geld handelt es sich meist um Gewinne, die nicht reinvestiert wurden sowie nicht verlängerte Kreditlinien, die sich Unternehmen gegenseitig gewährt haben.

Da nie zuvor so viel Kapital die Bundesrepublik verlassen hat, befürchten manche Politiker und Journalisten, dass Deutschland am Rand einer Deindustrialisierung steht. „Der Industriestandort Deutschland hat dramatisch an Qualität verloren“, warnt auch der Vorstand der Stiftung Familienunternehmen, Professor Rainer Kirchdörfer.

Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) hält solche Gruselszenarien für übertrieben. „Von Deindustrialisierung in Deutschland zu sprechen, ist nicht angebracht. Ohne Zweifel gibt es Themen und Herausforderungen mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland und dessen notwendige Transformation, doch Schwarzmalerei ist der falsche Weg“, so der VDMA-Chef.

Eine Studie der Unternehmensberatung EY gibt ihm Recht. Ihr zufolge ist Deutschland für sechs von zehn internationalen Investoren nach wie vor der attraktivste Investitionsstandort in Europa vor Frankreich und Großbritannien. Im vergangenen Jahr planten sie mit 5.962 Projekten 1,4 Prozent mehr Investitionsvorhaben als 2021. Allerdings nimmt die Zahl der Investitionen vor allem in den Branchen Software und IT sowie Unternehmensdienstleistungen zu. In der Automobilindustrie ist sie um sieben, im Maschinenbau um vier Prozent zurückgegangen. Dort fließen Investitionen in Europa vorwiegend nach Frankreich.

Deindustrialisierung: Standortbedingungen müssen verbessert werden

Nur, weil eine Deindustrialisierung ein populistischer Kinderschreck bleibt, kann sich die Bundesregierung aber nicht zurücklehnen. Im Gegenteil! Sie muss die Standortbedingungen hierzulande dringend verbessern. „Deutschland hat die wirtschaftlichen Folgen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine deutlich zu spüren bekommen. Daher gibt es von der Energieversorgung und den Preisen dafür bis hin zu überbordender Bürokratie viele Herausforderungen, die es zu meistern gilt“, warnt VDMA-Geschäftsführer Thilo Brodtmann. „Auch unser Steuersystem muss international wettbewerbsfähig, innovations- und investitionsfreundlich werden.“ Weitere Baustellen seien die Verfügbarkeit von Arbeitskräften und die Lohnkosten.

Das schadet der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands

Neun von zehn Unternehmen sehen ihre Wettbewerbsfähigkeit vor allem durch die Kosten geschmälert, die ihnen die Bürokratie verursacht, fand das IW heraus. Maschinenbauer müssen laut dem VDMA bis zu drei Prozent ihres Umsatzes aufwenden, um die Aufgaben zu erledigen, die ihnen die öffentliche Verwaltung abverlangt. Diese verursachte Unternehmen 2022 deutschlandweit Kosten in Höhe von 17,4 Milliarden Euro. Das waren 6,7 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr, berichtet der Nationale Normenkontrollrat.

Für Professor Michael Grömling, Leiter des Clusters Makroökonomie und Konjunktur am IW, schadet das der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland massiv. „Zumal die Bürokratie in den vergangenen Jahrzehnten eher umfangreicher und aufwändiger geworden ist“, erklärt Grömling. „Da verwundert es nicht, dass manch ausländisches Unternehmen davon abgeschreckt wird und nicht hierzulande investiert.“

Zugleich bekommen die Betriebe vom Staat kaum Leistung zurück. Sechs von zehn Unternehmen halten deutsche Behörden für kaum, wenig oder gar nicht leistungsfähig, sieben von zehn bemängeln die Flexibilität und Arbeitsgeschwindigkeit der Beamten, immerhin 55 Prozent deren Serviceorientierung, so das Ergebnis einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach.

Deutscher Maschinenbau-Gipfel 2022
(Bild: mi-connect)

Deutscher Maschinenbau-Gipfel

Der Maschinenbau-Gipfel 2023 ist vorbei - hier können Sie die Highlights Revue passieren lassen:

 

Die Veranstalter des Maschinenbau-Gipfels, VDMA und PRODUKTION freuen sich, wenn Sie auch 2025 in Berlin dabei sind!

 

Hier geht es zur Website des Maschinenbau-Gipfels.

Energiepreisanstieg war großer Schock

Für die seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine massiv gestiegenen Energiekosten können die Staatsdiener natürlich nichts. Dabei handelt es sich um den größten externen Schock für die deutsche Wirtschaft seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Im zweiten Halbjahr 2022 zahlten Unternehmen laut dem IW im Schnitt 64 Prozent mehr für Strom als zwei Jahre zuvor. Der Strompreis lag damit ein Drittel über jenem in den USA.

Da das verarbeitende Gewerbe, wie das Ifo Institut für Wirtschaftsforschung berichtet, 43 Prozent des deutschen Stromverbrauchs verursacht und zugleich ein Fünftel der Bruttowertschöpfung erwirtschaftet, schlägt der Schock massiv auf die gesamte Volkswirtschaft durch.

Die Erzeugerpreise lagen vor allem in Folge der höheren Energiekosten im Herbst 2022 um 45 Prozent über dem Niveau zur gleichen Zeit des Vorjahres. Bei den Ölpreisschocks 1974 und 1981 stiegen sie nur um 13,5 beziehungsweise 7,9 Prozent.

Unternehmen zahlen den Preis für „verfehlte Energiepolitik“

Dies sei der Preis für eine „verfehlte Energiepolitik“, stellt der Wirtschaftskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in Berlin, René Höltschi fest. Dass der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Sigfried Rußwurm, eine Mitschuld der Unternehmen an dieser Situation zugibt, weil sie jahrelang nach billigem russischen Gas gegiert haben, hilft indes wenig, die Folgen des Preisschocks für die Struktur der deutschen Industrie abzuwenden.

Zwar sei dadurch keine umfassende Deindustrialisierung zu erwarten, meint Eric Heymann, Senior Economist bei Deutsche Bank Research. „Allerdings dürften die Folgen des Schocks für einige Branchen, allen voran die deutsche Chemieindustrie deutlich größer ausfallen. Hier wird Deutschland über kurz oder lang Produktion verlieren,“ so Heymann.

Zumal Unternehmen neben Strom und Gas hierzulande auch für Arbeit deutlich mehr zahlen als anderswo. Ein Vergleich von 28 Industriestaaten durch das IW ergab, dass Löhne und Sozialbeiträge in Deutschland 20 Prozent höher sind als im Durchschnitt der anderen Standorte. Im vergangenen Jahr sind sie durch die hohen Tarifabschlüsse in Folge der Inflation um weitere 4,2 Prozent gestiegen.

Für vier von zehn Unternehmen sind die Lohnkosten daher die größte Belastung für ihre Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig schränkt der Mangel an qualifizierten Arbeitnehmern, die Produktionsfähigkeit von 43 Prozent der deutschen Maschinenbaubetriebe ein, meldet der VDMA.

Standort Deutschland: Produktivität wächst kaum noch

Für sich genommen könnten Unternehmen die Bürokratie, steigenden Energie- und Lohnkosten vielleicht schultern. In der Kombination miteinander sowie mit den in Deutschland im internationalen Vergleich hohen Unternehmenssteuern und der heruntergewirtschafteten Infrastruktur schmälern sie jedoch die Produktivität hierzulande eingesetzten Kapitals soweit. Seit der Jahrtausendwende stieg die Produktivität dem IW zufolge hierzulande im Schnitt jährlich um 0,9 Prozent. Schon das war nicht viel, 2022 war das Plus aber mit 0,5 Prozent nur noch etwas mehr als halb so groß.

Deutschland trifft dies besonders hart, weil es 71 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts und damit weit mehr als die USA, Japan oder Frankreich im Export erwirtschaftet. Deutsche Industriebetriebe stehen daher unter einem massiven Preisdruck. „Zugleich tragen sie mit einem Fünftel hierzulande erheblich mehr zur Wirtschaftsleistung bei, als das Verarbeitende Gewerbe in Frankreich oder Großbritannien mit rund zehn Prozent“, ergänzt Michael Grömling vom IW.

Aktuelle Meldungen aus der Industrie

Energiekrise, Lieferengpässe, Fachkräftemangel: Die Industrie steht vor vielen Herausforderungen. Alle Meldungen aus Maschinenbau und Co finden Sie in unserem News-Blog. Hier klicken!

Womit deutsche Unternehmen punkten können

Noch kann sich die deutsche Industrie im internationalen Wettbewerb durch die Qualität und Innovativität ihrer Produkte behaupten, stellt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage in seinem Jahresgutachten 2022/23 fest. Der Global Innovation Index der World Intellectual Property Organisation bestätigt das. Deutschland belegte darin 2022 den achten von 132 Plätzen direkt hinter Singapur und Südkorea und weit vor Frankreich, Kanada oder Israel. In einigen Teilindizes schnitt es sogar deutlich besser ab.

So landet die Qualität der Forschung und Entwicklung an deutschen Universitäten und Forschungsnetzwerken wie der Fraunhofer- oder der Max-Planck-Gesellschaft im internationalen Vergleich auf dem fünften Platz. Bei der Zahl der Patentanmeldungen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt besetzt Deutschland weltweit sogar die Spitzenposition.

Insgesamt liegt das Humankapital gemessen am Humankapitalindex der Weltbank in Deutschland über dem Niveau der USA und Chinas, stellt auch der Sachverständigenrat fest. Allerdings müsse diese Position durch Investitionen in Schulen und Hochschulen gefestigt und ausgebaut werden. Die Bildungsinvestitionen pro Person in Relation zum Bruttoinlandsprodukt lägen aber unter dem Durchschnitt der OECD-Staaten, warnen die Wissenschaftler.

Die Struktur der deutschen Industrie wird sich verändern

Ob die Marke „Made in Germany“ ihre Zugkraft künftig noch entfalten kann, ist also nicht sicher. Als gegeben nehmen dagegen 96 Prozent der vom IW dazu befragten Unternehmen heute schon an, dass die hohen Lohnkosten sowie die durch den Staat durch Umweltauflagen und die Regulierung des Arbeitsmarktes verursachten Kosten anhaltend hoch bleiben. Immerhin 92 Prozent der Betriebe sehen auch nicht, dass die Bürokratiekosten in absehbarer Zeit sinken. Lediglich bei Strom und Gas erwarten vier von zehn Befragten einen Rückgang der Preise.

Die Bundesrepublik steuert deshalb zwar nicht in eine Deindustrialisierung, beruhigen fast alle Volkswirte. Aber die Struktur der deutschen Industrie wird sich in den kommenden Jahren verändern. „Es wird Gewinner und Verlierer innerhalb der Wirtschaftszweige geben. Energieeffiziente Unternehmen werden zu den Gewinnern gehören, andere Unternehmen werden aus dem Markt scheiden“, fasst Professorin Monika Schnitzer in einem gemeinsam mit Kolleginnen für das Ifo verfassten Aufsatz zusammen. Energieintensive Industrieproduktion könne abwandern, stellen die Wissenschaftlerinnen fest.

Was passiert, wenn sich die Zulieferstrukturen ändern?

Dadurch könnte der Standort Deutschland auch für Mittelständler an Attraktivität verlieren. Sie hält bislang vor allem die Tatsache im Land, dass es an kaum einem anderen Standort auf derart vielen Wertschöpfungsstufen Zulieferer gibt wie in Deutschland und Kunden sowie Lieferanten daher kaum irgendwo so eng vernetzt sind wie hierzulande. „Doch wenn energieintensive Industrien abwandern und Deutschlands industrielle Basis und seine Zulieferstrukturen bröckeln, ist auch die Annahme nur noch bedingt valide, dass Mittelständler die Bundesrepublik wegen ihrer Einbindung in diese Wertschöpfungsstrukturen nicht so schnell verlassen“, warnt Professor Michael Grömling vom IW.

Die von seinem Kollegen Christian Rusche festgestellten Abflüsse an Direktinvestitionen wären dann wohl doch der Beginn einer Deindustrialisierung Deutschlands.

(Bearbeitet von Anja Ringel und Sabine Königl.)

Sie möchten gerne weiterlesen?