VDMA-Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann.

VDMA-Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann: Debatte um den Standort Deutschland ja, Schwarzmalerei nein. (Bild: VDMA)

Immer wieder wird in der öffentlichen Diskussion über den Standort Deutschland derzeit das Schreckgespenst einer bevorstehenden Deindustrialisierung gezeichnet. Ist das ein übertriebenes Gruselszenario oder ist da etwas dran?

Thilo Brodtmann: "Von Deindustrialisierung in Deutschland zu sprechen, ist nicht angebracht. Ohne Zweifel gibt es Themen und Herausforderungen mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland und dessen notwendige Transformation, doch Schwarzmalerei ist der falsche Weg. Gut und richtig ist, dass die Frage der Standortqualität und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nach langer Zeit endlich wieder in den Blick genommen wird."

Woher kommt das?

Brodtmann: "Der Standort Deutschland hat die wirtschaftlichen Folgen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine deutlich zu spüren bekommen. Daher gibt es von der Energieversorgung und den Preisen dafür, über - die richtigen - Sanktionen gegen Russland, bis hin zu marktverzerrenden Subventionen und überbordender Bürokratie derzeit viele Herausforderungen, die es zu meistern gilt."

Deutscher Maschinenbau-Gipfel 2022
(Bild: mi-connect)

Deutscher Maschinenbau-Gipfel

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Wie treffen diese den Maschinen- und Anlagenbau?

Brodtmann: "Die Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbau waren und sind von alldem sehr unterschiedlich betroffen. Doch insgesamt hat sich die Auftragslage rückläufig entwickelt, auch wenn wir aktuell noch von hohen Auftragsbeständen profitieren. Denn weltweit sind Kunden angesichts der Volatilität mit Investitionen zurückhaltender geworden."

Insgesamt deutet aber auch einiges daraufhin, dass die Produktivität in Deutschland eingesetzten Kapitals und damit die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes kontinuierlich zurückgehen. Was sind die wichtigsten Faktoren, die das aus Sicht des VDMA erklären?

Brodtmann: "Die Belastungen durch die Bürokratie sind deutlich zu hoch. Wir brauchen einfachere administrative Prozesse und weniger Bürokratie insbesondere für den Mittelstand, vor allem mit Blick auf Regulierung durch die EU."

Wie groß ist der rein deutsche Anteil an der übermäßigen Bürokratie und wie viel davon hat Brüssel zu verantworten?

Brodtmann: "Eine klare Trennschärfe ist schwierig. Fakt ist: Die inzwischen absurde Bürokratielast in Deutschland erschwert den Unternehmen in vielen Bereichen das Leben enorm und die EU reguliert munter weiter. Auf beiden Ebenen braucht es den Verzicht auf in der Pipeline steckende Regulierung und zusätzlich den Abbau bestehender Bürokratie – und zwar dringend!

Gerade scheint die deutsche und europäische Politik zu begreifen, dass die Unternehmen und insbesondere der industrielle Mittelstand nicht grenzenlos belastbar sind. Denn ist die Grenze der Belastbarkeit erreicht oder überschritten – wir befinden uns nahe an diesem Punkt  – investieren Unternehmen lieber dort, wo Wachstum und der Aufbau von Arbeitsplätzen positiv gewürdigt werden. Das macht mir in Kombination mit den hohen Energiepreisen und dem modernisierungsbedürftigen Steuersystem wirklich Sorgen."

Was meinen Sie konkret?

Brodtmann: "Unser Steuersystem muss international wettbewerbsfähig, innovations- und investitionsfreundlich werden. Konkrete Forderungen hier lauten: Eine steuerliche Forschungsförderung, die nicht gedeckelt ist, bessere Abschreibungsbedingungen – sowohl degressiv wie als Sofortabschreibungen. Außerdem müssen Verlustvorträge und -rückträge steuerlich erleichtert werden.

Wichtig ist auch das Themenfeld Arbeitskräfte und Lohnkosten. Da wir ein Hochlohnland sind, brauchen wir mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt. Zudem muss mit Hochdruck dem Fachkräftemangel begegnet werden. Dazu zählt auch, die Fachkräfteeinwanderung bedarfs- und qualifikationsorientiert auszugestalten und zu entbürokratisieren sowie Zeitarbeit in dieses Thema zu integrieren."

Was macht den Standort Deutschland aus Sicht des VDMA noch attraktiv?

Brodtmann: "Das Niveau der Forschung ist in Deutschland top. Es gibt enge Netzwerke zwischen Unternehmen, Forschung und Wissenschaft. Die Wege sind kurz. Das hat hohen Wert. Auch die Qualität der Berufsausbildung ist in Deutschland hoch, insbesondere das Modell der dualen Ausbildung.

Die Lage im Zentrum des EU-Binnenmarkts ist ebenfalls attraktiv. Die Rechtssicherheit in Deutschland ist ein weiterer positiver Standortfaktor. Das alles ist nicht zu unterschätzen.

Aus VDMA-Sicht lautet die Botschaft deshalb: Debatte um den Standort ja, Schwarzmalerei nein. Ohne Zweifel sind die Herausforderungen vielseitig und enorm, doch wir müssen viel mehr in Lösungen und Optionen denken und weniger in Problemen. Wir müssen uns bei allen Standortfaktoren an den weltweit Besten messen."

Was muss in welcher Form und Reihenfolge möglichst schnell passieren, um die Produktivität am Standort Deutschland wieder zu steigern?

Brodtmann: "Es gilt Anreize für Investitionen zu schaffen, durch gute Rahmenbedingungen: Steuerpolitik und Bürokratieabbau sind wesentliche Pfeiler. Wir brauchen schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren bis runter auf die kommunale Ebene.  Zudem muss Infrastruktur für die Digitalisierung geschaffen werden. Nur dann funktioniert Industrie 4.0 richtig und nur dann kann auch eine digitale Verwaltung gut funktionieren.

Aber die Wünsche sind nicht nur mit der Politik zu diskutieren – wir müssen uns auch als Gesellschaft fragen, ob wir wieder Gas geben wollen und Leistung vornan stellen oder ob wir in einer Art 'Vollversicherungsmentalität' eine staatliche Absicherung für alles und jedes erwarten. Im ersten Fall nehmen wir die Kurve, im anderen Fall kann es dann doch zu einer schleichenden Deindustrialisierung kommen. Das müssen wir alle gemeinsam vermeiden."

(Bearbeitet von Anja Ringel und Sabine Königl.)

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