Ein unscheinbares Kunststoffteil, kaum größer als ein Frühstücksbrettchen, liegt auf dem Labortisch. Es sieht aus wie ein gewöhnliches Bauteil aus dem Innenraum eines Fahrzeugs – doch seine innere Struktur birgt eine vielversprechende Innovation für die Zukunft der Industrie: CO₂ nicht nur vermeiden, sondern aktiv reduzieren. Was hier wie ein einfacher Prototyp wirkt, ist das Ergebnis jahrelanger Forschung, präziser Materialentwicklung und einer ungewöhnlich engen Zusammenarbeit zwischen Autobauern, Rohstoffherstellern und Forschungseinrichtungen.
Willkommen im Arbeitspaket Kunststoffe des Leuchtturmprojekts Future Sustainable Car Materials (FSCM) – einem der ambitioniertesten Vorhaben für nachhaltige Materialinnovationen in der deutschen Automobilindustrie. Mit einem zweistelligen Millionenbetrag Gesamtprojektvolumen und Unterstützung durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWE) für Arbeitspakete im Bereich Kunststoffe, Metalle, Digitalisierung und Design for Recycling will das Projekt beweisen: Recycling und der anschließende Einsatz von Sekundärmaterialien sind kein Selbstzweck, sondern tragen dazu bei, CO2-Emissionen zu reduzieren – technisch anspruchsvoll, wirtschaftlich tragfähig und skalierbar.
Unter der Konsortialführung der BMW Group vereint das FSCM-Projekt seit Oktober 2022 führende Unternehmen und Institute, um Materialien der nächsten Fahrzeuggeneration zu entwickeln. Besonders das Teilprojekt Kunststoffe steht exemplarisch für die Herausforderungen der Branche: Leichtbau, Sicherheit, Langlebigkeit und Kosten treffen auf strenge Kreislaufwirtschafts- und CO₂-Vorgaben. Der Anspruch: Werkstoffe, die sich am Lebensende nicht als Problem, sondern als Ressource entpuppen.
Jetzt, zum Ende des Projekts, ist es Zeit für einen genaueren Blick auf das, was im Arbeitspaket Kunststoffe bereits erreicht wurde.
Wie bringt FSCM Rezyklate in Sichtbauteile?

Ein zentrales Arbeitspaket untersucht den Einsatz von Polypropylen-Rezyklaten (PP+EPDM) für Exterieurteile wie Stoßfängerverkleidungen. Das Besondere: Die Materialien stammen sowohl aus Open-Loop-Quellen (nicht-automotive Quellen wie dem Gelben Sack) als auch aus Closed-Loop-Strömen wie Altstoßfängern. Von den FSCM-Konsortialpartnern Evonik, Wipag und Mocom werden diese Quellen aufbereitet und bisher wurden damit insgesamt 64 verschiedene Materialrezepturen entwickelt.
Es gilt, die hohen Anforderungen der Automobilbranche zu erfüllen – darunter Lackhaftung, Klimawechseltests und Dampfstrahlprüfungen. In einem eigens entwickelten Spritzgusswerkzeug konnte die BMW Group mit den Konsortialpartnern – darunter auch das Kunststoff-Institut Lüdenscheid – seriennahe Tests unter Produktionsbedingungen durchführen. Ein entscheidender Use Case, der beweist: Sichtteile aus Rezyklat sind technologisch darstellbar.
Wie MOCOM alte Stoßstangen in neue verwandelt
Können Rezyklate sogar in sicherheitsrelevanten Innenraumteilen eingesetzt werden?
Säulenverkleidungen im Fahrzeuginnenraum sind mehr als nur Zierde. Sie übernehmen eine sicherheitsrelevante Funktion, etwa beim Auslösen des Airbags. Dabei dürfen sie keine scharfkantigen Splitter bilden, um das Verletzungsrisiko für Fahrzeuginsassen zu minimieren.
Im Rahmen des FSCM-Projekts wurden daher naturfarbene PC+ABS-Rezyklate entwickelt, die durch gezielte Additivierung mit Mocom eine signifikante Verbesserung der Schlagzähigkeit zeigen – um +24 Prozent bei Raumtemperatur, sogar +44 Prozent bei –30 °C.
Nach erfolgreich bestandenen Material-, Oberflächen- und Emissionstests erfolgte die nächste Stufe der Validierung: umfassende Prüfungen zur Funktionssicherheit der Bauteile im Airbagauslösefall. In diesem Pilotversuch positiv. Der Airbag entfaltete sich zuverlässig, auch der Kopfaufpralltest gemäß FMVSS 201 wurde erfolgreich bestanden. Das zeigt: Mechanische Rezyklate können – bei geeigneter Materialauswahl und entsprechender Verarbeitung – die hohen technischen Anforderungen erfüllen, die an sicherheitsrelevante Bauteile im Fahrzeuginnenraum gestellt werden.
Mit einer sorgfältig abgestimmten Rohstoffquelle und einer durchgängigen Entwicklungsstrategie entlang der gesamten Wertschöpfungskette lassen sich somit Komponenten realisieren, die in puncto Qualität und Sicherheit mit konventionellen Lösungen aus Neuware gleichziehen können.


FSCM beweist, dass Rezyklate nicht nur in Laborumgebungen, sondern auch unter Serienbedingungen funktionieren können – selbst dort, wo es auf Optik, Performance/Qualität und Sicherheit ankommt. Für den Mittelstand ist dies nicht nur ein Signal, sondern eine Einladung: Wer heute Pilotmengen liefert oder Prüfmethoden validiert, ist morgen ein unverzichtbarer Teil nachhaltiger Wertschöpfungsketten.
Wie kann ein Kunststoff-Granulat einen digitalen Fußabdruck erhalten?
FSCM erarbeitet Konzepte für das Materialdatenmanagement über die Wertschöpfungskette. Gemeinsam mit Material.One und den Partnern für die Aufbereitung der Kunststoffe wird aktuell testweise daran gearbeitet, die wichtigen Qualitätsmerkmale über die Prozesskette in einer zentral für alle Partner erreichbaren Datenplattform abzulegen und zu pflegen.
Das Verschicken und Validieren von Dokumenten über E-Mails, in Verbindung mit nicht durchgängigen Datenökosystemen, wird in Zukunft durch solche kollaborative Plattformen ersetzt werden, was die Schnelligkeit und die Präzision der Zusammenarbeit entscheidend steigern wird. Ein entscheidender Baustein für transparente Lieferketten und fundierte Vergabeentscheidungen.
Was plant das Konsortium als Nächstes?
Die ersten Ergebnisse der Demonstratoren aus den entwickelten Werkstoffen waren bereits erfolgreich. Ziel ist es nun, in der verbleibenden Projektlaufzeit die technische Reife für die Industrialisierung in möglichst vielen Compounds zu erreichen.
Das Projekt hat mit vielen anspruchsvollen Automobilanwendungen die Grenze der Machbarkeit für Rezyklate aus technischen Kunststoffen verschoben. Nun gilt es diese Erkenntnisse über Standardisierung und Kommunikation in die Breite zu tragen, um den Markt für kreislauffähige Werkstoffe zu verbessern.

Wie können mittelständische Unternehmen partizipieren?
Die FSCM-Ergebnisse bieten praxisnahe Einstiegspunkte für die Kunststoffindustrie:
- Rezyklatlieferanten sollten sich frühzeitig sortenreine Rezyklat-Quellen sichern – z. B. durch Kooperation mit Entsorgern oder Rücknahmesystemen, z.B. für maritime Kunststoffe.
- Compoundeure können durch gezielte Additivierung marktgerechte „Automotive-Grades“ entwickeln – ob für Exterieur, Interieur oder E/E.
- Labordienstleister sollten ihr Portfolio um neue, effizientere Prüfmethoden zur Evaluierung von Kunststoffrezyklaten erweitern.
- Softwareanbieter profitieren vom wachsenden Bedarf an Catena-X-konformen Datenschnittstellen.
- Engineering-Dienstleister mit Fokus auf Demontagefreundlichkeit und Monomaterial-Konzepte sichern sich langfristige Projektbeteiligungen.
Warum lohnt sich das Engagement wirtschaftlich und strategisch?
Der Einstieg in zirkuläre Materialsysteme eröffnet konkrete Vorteile:
- Marktzugang sichern: OEMs koppeln zunehmend die Vergaben an dokumentierte Recycling- und CO₂e-Kennzahlen.
- Kostenvorteile realisieren: Mechanische Rezyklate werden aufgrund ihres niedrigen Energiebedarfs bei der Herstellung in Zukunft einen signifikanten Kostenvorteil im Vergleich zur etablierten erdölbasierten Herstellkette bekommen.
- Kollaborative Arbeitsweisen mit Partnerunternehmen stärken: Die Wertschöpfungsketten für mechanische Rezyklate entstehen gerade neu. Wer sich früh mit Partnern verzahnt, wird robuste und wirtschaftlich attraktive Werkstoffe generieren.
Wegweisende Ergebnisse bei Kunststoffen und weiteren Themenfeldern
Die Ergebnisse aus dem FSCM-Projekt unterstreichen, dass mechanische Rezyklate nicht nur umweltpolitisch geboten, sondern auch technisch machbar und wirtschaftlich tragfähig sind – selbst für anspruchsvolle Sicht- und Sicherheitsbauteile.
Mit den entwickelten Materiallösungen und digitalen Ansätzen entstehen neue Standards für zirkuläre Wertschöpfung in der Automobilindustrie. Künftig wird es möglich sein, ressourcenschonende Materialien nicht nur als nachhaltige Alternative, sondern als leistungsfähige Serienlösung zu etablieren – vom digitalen Materialpass bis hin zur CO₂-optimierten Großserienfertigung.
Dabei beschränkt sich das Konsortialprojekt keineswegs nur auf den Bereich Kunststoffe: Auch in den Themenfeldern Metalle, Digitalisierung und Design for Recycling konnten wegweisende Fortschritte erzielt werden. Diese Ergebnisse markieren einen entscheidenden Schritt hin zu ganzheitlich zirkulären Ansätzen entlang der automobilen Wertschöpfungskette – und werden an dieser Stelle in Kürze ebenfalls vorgestellt.