Angesichts gestörter Supply Chains im Zuge der Corona-Pandemie sowie klimapolitischer Herausforderungen rufen Skeptiker zuweilen das Ende der Globalisierung aus. Die internationale Arbeitsteilung steht fraglos vor Herausforderungen, die Prinzipien wie 'just in time' sowie hochgradig auf Effizienz optimierte Produktionsnetzwerke auf den Prüfstand stellen. Müssen Unternehmen ihre Produktion künftig deutlich stärker nach der Devise 'think global, act local' ausrichten?
Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Digitalisierung, Lohnkosten und eine veränderte Herstellung - sowie der Strukturwandel in der Automobilindustrie. Diese mitunter disruptiven Prozesse wirken sich natürlich auch auf die Gesellschaft aus.
Dazu äußert sich Dr. Lutz Bertling, Vorstand Unternehmens- und Geschäftsentwicklung, Strategie und Digitalisierung, OHB Gruppe, Bremen wie folgt: „Wir sind überzeugt, dass Produktionsnetzwerke der Zukunft auch weiter global sein werden. Wir glauben nicht, dass es nach der Krise zu nationalen oder kontinentalen Netzwerken zurückgeht. Es wird da einen gewissen Trend zu hingeben, aber im Wesentlichen wird es global bleiben."
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- Digitale Plattformen und Herstellung vor Ort
- Mehr Mut zur digitalen Transformation
- Arbeitgeber müssen digitale Transformation forcieren
- Globalisierung ist eine mathematische Funktion technischer Möglichkeiten
- Stimulierter Egoismus hat fatale Auswirkungen auf die Industrie
- Gehalt und Lohnnebenkosten in deutschen Unternehmen hoch
- Digitalisierung nicht für alle Arbeitnehmer und Unternehmen von Vorteil
Wirtschaft braucht die Märkte auf der Welt
Laut Bertling braucht das gerade Deutschland als exportorientierte Nation. "Wir werden weiter Märkte auf der Welt brauchen und wir werden weiter in diesen Märkten präsent sein müssen – mit eigenen Niederlassungen oder Lieferantennetzwerken. Wir werden dort nicht nur verkaufen können, sondern auch lokal produzieren müssen", ist sich Bertling sicher.
Aber er denkt auch, dass sich die Welt nach und auch schon während der Krise immens verändert. "So werden wir sehen, dass neue Technologien ganz starken Einfluss haben werden und sich beschleunigen. Künstliche Intelligenz in der Planung von Produktion und Netzwerken wird sehr viel stärker vorhanden sein. Robotik, automatisierte Systeme, real time tracking - also jederzeit wissen, was sich wo und in welchem Zustand befindet - wird ein Standard werden bei diesen neuen Technologien", prognostiziert Bertling.
Aber es kommen auch neue Marktteilnehmer auf – Kunden von gestern sind Wettbewerber von heute, so Bertling. Amazon sei da das beste Beispiel: Gestern noch ein sehr großer Kunde der Logistikbranche, heute selber ein Logistiker.
Digitale Plattformen und Herstellung vor Ort
Bertling verweist auch auf ganz neue Marktteilnehmer – vor allem Start-ups, die sich nicht auf das Vollsortiment konzentrieren wie die Gesamtlösung oder das Komplettportfolio, sondern nur auf den wertvollsten Teil der Wertschöpfungskette.
"Dort greifen sie an. Sie greifen immer von der Seite an und versuchen nicht, eine 97-prozentige Performance mit einer 98-prozentigen-Performance zu schlagen. Sie wollen eine neue Lösung schaffen, die es obsolet macht, was der Könner von gestern anbietet", erläutert Bertling.
Er prognostiziert auch neue Kundenerwartungen, günstige oder sogar kostenlose Lieferungen und das möglichst am selben Tag. Und es gibt neue Geschäftsmodelle, wie Bertling einschätzt: "Plattformbusiness wird zunehmen, digitale Dienstleistungen und digitale Produkte werden immer weiter an Bedeutung zunehmen. Es wird auch dazu kommen, dass teilweise klassische Logistikdienstleistungen gar nicht mehr benötigt werden. So ist es heute möglich einen Turnschuh im kompletten Materialmix aus dem 3D-Drucker zu produzieren. Transportiert werden demnach nur noch die Daten zum Drucker, der vor Ort steht", sagt Bertling.
Hoher Lohn in Deutschland - Produktion im Ausland?
Herr Bertling, durch den hohen Bruttolohn besteht ein hoher Lohnkostendruck in Deutschland. Wird es demnach künftig nur noch Entwicklung hierzulande und die Produktion im günstigeren Ausland geben?
Bertling: "Nein. Wir brauchen aus Kostengründen eine Art Mischkalkulation, wir müssen in Märkten mit Produktion präsent sein. Aber ich glaube, wenn wir die Produktionskomponente und auch Teile der Engineering-Komponente - das einfachere Engineering - aufgeben, dann werden wir sehr schnell auch unsere Kompetenz verlieren. Wir brauchen den stetigen Rückfluss aus der Produktion. Wir brauchen eine gegenseitige Befruchtung von Produktion und Engineering. Die Lohnkostenthemen müssen wir etwas nivellieren. Wir müssen die Unternehmen sehr viel flacher strukturieren und durch Digitalisierung das Lohnkostengefälle ein Stück weit aushebeln. Man muss auf jeden Fall das Gesamtsystem beherrschen können, sonst verliert man das zu schnell, wenn Teile der Kette sehr, sehr remote sind."
Mehr Mut zur digitalen Transformation
"Ich glaube, dass Technologien und Daten Wettbewerbsvorteile sichern. Ich brauche den Mut zur Digitalisierung" - mit diesen Worten wendet sich Bertling an die Arbeitgeber und nennt ein konkretes, erfolgreiches Beispiel aus der Wirtschaft: "Hapag Lloyd hat sich vor etwa drei Jahren eine sehr konsequente Digitalisierungsstrategie verordnet. Jetzt werden über zehn Prozent der Container digital geordert, das Online Marketing ist sehr stark geworden. Preise für Online-Buchungen hat man innerhalb von Sekunden statt von Tagen."
Das habe dazu geführt, das Hapag Llloyd heute über zehn Prozent profitabler ist pro Container als der Wettbewerber Maersk. Bei den richtigen Rahmenbedingungen ermögliche Digitalisierung deutliche Wettbewerbsvorteile.
Zu den lessons learned aus der Corona-Krise sagt Bertling: "Wir sind überzeugt, dass Produktions- und Logistiknetzwerke der Zukunft digitaler, transparenter und verlässlicher sein müssen. Warum digital? Wir müssen die Effizienz steigern, um global wettbewerbsfähig zu bleiben. Dazu gehört, dass wir Prozesse digitalisieren, um sie dann zu analysieren, zu optimieren und weitgehend zu automatisieren."
Arbeitgeber müssen digitale Transformation forcieren
Seine Sicht auf die Themen Globalisierung, Lohnkosten und Digitalisierung gibt Rainer Bürkert wieder, Executive Vice President, Würth-Gruppe und Geschäftsführer, Würth Industrie Service GmbH & Co. KG, Bad Mergentheim:
"Es gibt Tendenzen, durch 3D-Druck Einiges zu relokalisieren – und dennoch bin ich davon überzeugt, dass die Globalisierung noch lange nicht am Ende ist. Als Beispiele dafür dienen auch die Seidenstraße, Bernsteinstraße oder Salzstraße: Damals wurde auch Handel innerhalb der bekannten Welt betrieben – also nichts Anderes als Globalisierung. Auch zu dieser Zeit wurden Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage ausgeglichen. Es gab weniger Reglementierungen, sondern es ging vielmehr darum, wer konnte was transportieren."
Laut Bürkert neigen Märkte immer dazu, sich auszugleichen. Ein wirtschaftliches Abschotten von Ländern führt letztlich zu deren wirtschaftlichem Kollaps, da keine neuen Impulse von außen kommen – das letzte Beispiel dazu ist die DDR beziehungsweise der Ostblock. Sein Unternehmen hingegen lebt sozusagen die Globalisierung mit 56 Gesellschaften in 45 Ländern.
Gesellschaft muss akzeptieren, dass sich Prozesse der Herstellung global verteilen
"Denn in Zeiten des Internets weiß der smarte Konsument ganz genau, welche Produkte zu welcher Qualität im Markt vorhanden sind. Somit kann der Produzent nicht mehr für regionale Märkte unterschiedliche Qualitätsstandards anbieten, sondern einen weltweiten Standard auf höchstem Niveau. Kann das eine Industrie in einem Land nicht, dann wird sie früher oder später sterben", spricht Bürkert Klartext.
In diesem Zusammenhang erachtet er das Thema Know how-Transfer als ganz wichtig, auch die Ausnutzung von shared services around the globe wird immer einfacher und somit wird sich das Thema Bürokratie zunehmend über den Globus verteilen.
"Es wird keine Chance mehr geben, Wissen aufzuhalten oder Wettbewerb auszuschließen. Das heißt, dass Produktion natürlich in Teilen lokal stattfinden wird, aber der Gedanke, wie etwas designt ist und welchem Standard es genügt, wird global sein – weil auch Bildung via Internet global ist. Früher oder später wird es die Präsenzuniversitäten, wie wir sie kennen, so auch nicht mehr geben", blickt Bürkert nach vorn.
Hoher Lohn in Deutschland - Produktion im Ausland?
Herr Bürkert, durch den hohen Bruttolohn besteht ein hoher Lohnkostendruck in Deutschland. Wird es demnach künftig nur noch Entwicklung hierzulande und die Produktion im günstigeren Ausland geben?
Bürkert: "Die Produktion wird in Teilen in die Welt abwandern, wo die Märkte sind. Für Deutschland ist es wichtig, weiter nach dem Motto ‚Vorsprung durch Technik‘ zu handeln, was getrieben wird durch die Bildung. Wir werden in Zukunft nicht die Masse von nicht ganz so gut ausgebildeten Arbeitnehmern brauchen, sondern wirklich gute Ingenieure, Softwareentwickler und dergleichen, um letztlich diesen Vorsprung durch Technik wieder zu gewinnen um den Lohnkostenunterschied im Vergleich zu anderen Ländern zu rechtfertigen. Dabei wird uns helfen, dass die Produktion weiter durch Roboter und Künstliche Intelligenz automatisiert werden und damit der Lohnkostenanteil eine geringere Rolle spielen."
Globalisierung ist eine mathematische Funktion technischer Möglichkeiten
Für ihn wird die Welt zum Dorf und "wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass wir dieses Naturgesetz nicht aufhalten können. Denn Globalisierung ist nichts anderes als eine mathematische Funktion technischer Möglichkeiten, die entwickelt wird über Transport, Kommunikation und Zahlungsverkehr um wirtschaftliche Ungleichgewichte in Produktion, Bildung und Standards auszugleichen. Wir können über unsere Bürokratie versuchen, diese Funktion temporär zu bremsen - aber ausschalten können wir sie nicht", betont Bürkert.
Zu den lessons learned aus der Pandemie sagt Bürkert: "Das Home office funktioniert wunderbar. Auch einheitliche IT-Systeme und QS-Systeme rund um die Welt sind vorteilhaft, denn sollte irgendwo etwas nicht funktionieren, können wir es anderswo kompensieren. In Bezug auf die Lieferketten hatten wir keinen Tag ein Problem. Wir haben seit langem versucht, dual source aufzubauen und für kritische Produkte zwei oder drei Lieferanten zu haben. So hat es keine Probleme gegeben. Demnach sehen wir auch keine Gründe, dort etwas zu verändern."
Stimulierter Egoismus hat fatale Auswirkungen auf die Industrie
Einen Blick auf den Strukturwandel in der deutschen Automobilwirtschaft und deren Zulieferer wirft Ulrich Schrickel, CEO, Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG, Coburg:
"Vor Covid-19 hatten wir es mit Handelsstreitigkeiten zu tun, die den Warenverkehr weltweit erschwerten und auch verteuerten. Von dem Grundverständnis, dass wir in der Welt freie Handelsbeziehungen pflegen, tritt immer mehr das Verständnis ‚my country first‘. Für mich ist diese Abschottung der völlig falsche Weg und stellt für alle Unternehmen mit Außenhandelsbilanzen ein Problem dar. Der stimulierte Egoismus hat fatale Auswirkungen auf die Industrie, die Automobilindustrie und somit auch auf uns."
Als zusätzliche Belastung empfindet Schrickel den Austritt Großbritanniens aus der EU.
"Auch das kostet uns sehr viel Kraft, unsere Kunden dort bei einem ungeregelten Austritt zu versorgen. Da müssen Lagerbestände aufgebaut werden, was auch den Kunden Geld kostet. Der Green Deal ist für mich als Ingenieur zudem eine Mogelpackung, den ich technisch nicht nachvollziehen kann. Und die weitere Verschärfung um 50 bis 60 Prozent CO2-Reduzierung auf die Flotten gerechnet haben aus meiner Sicht erheblichen Einfluss auf das Geschäft und die Zukunft. Da gibt es roadmaps, die aus meiner Sicht völlig unsinnig sind", bezieht Schrickel Position.
Gehalt und Lohnnebenkosten in deutschen Unternehmen hoch
Zudem seien in Deutschland die Lohnstückkosten extrem unter Druck. "Auch deshalb bauen wir ein neues Werk in Serbien, denn dort sind die Lohnkosten erheblich unter denen in Deutschland und das Land kommt uns zudem sehr entgegen", so Schrickel.
Zum Thema 'Mobilitätswelt' erwartet Schrickel bis 2050 eine Verdreifachung des Mobilitätsbedarfs. Der Treiber dafür ist der wirtschaftliche Aufschwung in Schwellenländern und in China. "Doch deutsche OEM produzieren für diese Länder schon lange nicht mehr in Deutschland – damit finden auch Geschäft und Produktion im Ausland statt", erzählt Schrickel. Maximal noch Ingenieursabteilungen würden in Deutschland beschäftigt.
"Aber auch hier gehen wir vermehrt in diese Länder und entwickeln Produkte dort. Damit steigt der Lohnkostendruck auf Deutschland weiter und es macht es nicht einfach, eine Stabilität bezüglich der Arbeitsplätze zu schaffen. Andererseits ist Deutschland nach wie vor für Technologieunternehmen wie beispielsweise Tesla ein interessanter Markt. So haben wir für das Werk von Tesla bei Berlin zwei Aufträge gewonnen – als Ausgleich sozusagen", sieht Schrickel einen positiven Effekt für sein Unternehmen.
Hoher Lohn in Deutschland - Produktion im Ausland?
Herr Schrickel, durch den hohen Bruttolohn besteht ein hoher Lohnkostendruck in Deutschland. Wird es demnach künftig nur noch Entwicklung hierzulande und die Produktion im günstigeren Ausland geben?
Schrickel: "Lohnkosten spielen wegen der zunehmenden Automatisierung künftig eine geringere Rolle. Aber Kunden werden nicht akzeptieren, dass wir die komplette Entwicklung aus Deutschland heraus machen, sondern fordern, dass die Produktion und Teile der Entwicklung etwa in Indien stattfinden. Aber Kompetenz, Ausbildung und Technologieoffenheit unserer Arbeitnehmer brauchen wir in Deutschland – dann werden wir auch nach wie vor durch Technologie und Innovation in Zukunft eine große Rolle spielen. Aber durch die Digitalisierung und insbesondere starken Wettbewerb aus dem asiatischen Markt glaube ich, dass sich die Achsen verschieben werden und es nicht nur ein industrielles Gehirn in Deutschland beziehungsweise gibt, sondern mehrere Gravitationszentren auf der Welt."
Digitalisierung nicht für alle Arbeitnehmer und Unternehmen von Vorteil
Zur Digitalisierung sagt Schrickel, dass behauptet wird, dass sie viele Arbeitsplätze schafft. "Ja, die Digitalisierung schafft Arbeitsplätze, aber nicht da, wo der Druck auf den Arbeitsmarkt besonders groß ist – und es werden auch viele Arbeitsplätze durch die Digitalisierung entfallen. Wer das in Abrede stellt, der hat auch das Grundprinzip der Skalierung und der Einsatzmöglichkeiten von Künstlicher Intelligenz nicht verstanden", verdeutlicht der Brose-CEO.
Der Antrieb selbst - eine Kernkompetenz deutscher Industrie - berührt Schrickel besonders, da der CO2-Ausstoß laut EU radikal reduziert werden und auf die Elektrifizierung gesetzt werden soll.
Dazu Schrickel: "Ich halte das für totalen Quatsch, dann man tut so, als würde ein EV mit 100 Prozent grüner Energien hergestellt und betrieben werden. Dabei gehen lediglich 18 Prozent des CO2-Ausstoßes auf das KFZ in Deutschland. Da muss man sich schon fragen, warum man den deutschen Industriemotor künstlich kaputtmachen will durch eine total schräge CO2-Politik, die aus Brüssel kommt und in Deutschland in großen Teilen von der Regierung unterstützt wird", zeigt sich Schrickel unzufrieden.
Fertigung von EV benötigt weniger Arbeitnehmer, aber...
Es wird laut Schrickel auch nicht zur Kenntnis genommen, dass der Verbrennungsmotor noch ein deutliches Optimierungspotenzial besitzt. Er sieht 20 Prozent Verbesserungspotenzial beim Verbrenner selbst sowie weitere 20 Prozent durch E-Fuels."Dann würden wir auf rund 60 Milligramm kommen. Schließen wir die letzten zehn Prozent noch mit EV, dann können wir im Jahr 2030 50 Prozent CO2-Reduzierung erreichen", rechnet Schrickel vor.
Das käme nicht nur der deutschen Industrie entgegen, sondern reduziert auch die Abhängigkeit von Lieferketten aus China, wobei Schrickel auf die seltenen Erden verweist.
Abschließend beziffert Schrickel noch das Einsatzverhältnis der Mitarbeiter von Diesel zu Benziner zu EV auf 10:5:2. "Da könnte man argumentieren, dass sich die beste Technologie nicht an der Anzahl der Mitarbeiter richten dürfe. Aber ich stelle die Frage, ob das rein elektrisch betriebene Fahrzeug die beste Antriebstechnologie für jeden Einsatzfall ist", gibt sich Schrickel skeptisch.