Als am 2. August 2022 das Flugzeug mit Nancy Pelosi, der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses und Mitglied der Demokratischen Partei, auf dem Songshan-Flughafen in Taipeh landete, schlugen die Wellen bereits hoch. Pelosi war trotz chinesischer Warnungen nach Taiwan gereist und hatte dadurch den seit langem schwelenden Konflikt zwischen Festland-China und der vorgelagerten Insel aufs internationale Tapet befördert.
Denn: Die Regierung in Peking sieht Taiwan als Teil der Volksrepublik an. Die regierende Kommunistische Partei (KP) lehnt offizielle Kontakte anderer Länder zur taiwanischen Regierung strikt ab. Als konsolidierte und pluralistische Demokratie ist Taiwan allerdings das weithin gut sichtbare – und funktionierende – Gegenmodell zum autoritären System der Volksrepublik China – ein Dorn im Auge Xi Jinpings, dem Vorsitzenden der KP.
De facto ist Taiwan zwar politisch unabhängig, so die Stiftung Wissenschaft und Politik, wird jedoch von China mit dessen Wiedervereinigungsanspruch bereits seit langem unter Druck gesetzt. Die Mittel der Wahl: militärische Drohgebärden, wirtschaftliche Sanktionen, Cyberangriffe und Desinformationskampagnen. Als Reaktion startete Chinas Militär umfangreiche Manöver mit scharfer Munition in sechs Meeresgebieten rund um Taiwan.
"Ein Land zwei Systeme" ist nur noch ein leeres Versprechen
Im Jahr 2002 wurde Hongkong – als vormalige britische Kolonie an China offiziell zurückgegeben. Die Volksrepublik versprach „ein Land, zwei Systeme“ und brach das Versprechen mit einem sogenannten „Sicherheitsgesetz“ und massivem und gewalttätigem Einschreiten gegen die Proteste der Bevölkerung zwischen 2019 und 2020. Das liberale und bis dahin weitgehend unabhängige Rechtssystem Hongkongs ist seitdem Geschichte.
Nach dieser Formel würde die KP auch die Wiedervereinigung mit Taiwan gestalten. Doch dort will das so gut wie niemand. Recht deutlich zu sehen ist: Seit die 23 Millionen Einwohner der Insel die Gewalttaten der Polizei in Hongkong 2019 beobachten, spricht sich nur noch eine Minderheit der Taiwaner für eine Vereinigung mit dem Festland aus.
Taiwans amtierende Präsidentin Tsai Ing-Wen lehnt die „Ein Land, zwei Systeme“-Formel ab. Weil diese gescheitert sei, herrsche in Hongkong Chaos, so Tsai. In ihrer Neujahrsansprache im Januar 2019 betonte sie deutlich, ihr Land sei nicht bereit, seine Souveränität aufzugeben.
Peking droht Taiwan offen mit Gewalt
Chinas Staatspräsident Xi Jin Ping antwortete damals mit besorgniserregender Härte. "Wir lassen keinen Raum für separatistische Umtriebe und behalten uns vor, dagegen mit allen erforderlichen Mittel vorzugehen", so der KP-Generalsekretär. Ihre Gewaltbereitschaft betont die Partei auch in einem im Juli 2019 veröffentlichten Weißbuch zur Verteidigungspolitik der Volksrepublik. Dort heißt es, China werde niemals erlauben, dass eine einzelne Person oder Partei die Einheit seines Territoriums gefährdet.
Schon unter Xis Vorgänger, Hu Jintao, hat Peking mit einem „Antisezessionsgesetz“ die rechtliche Grundlage für eine Annexion Taiwans geschaffen. "Diese wäre gerechtfertigt, wenn sich Taiwan unabhängig erklärt oder die KP zu der Auffassung gelangt, dass sich eine Vereinigung friedlich nicht mehr herbeiführen lässt", erklärt Taiwan-Experte Frédéric Krumbein.
Steht die Welt also vor einem Krieg in Ostasien? Vor zwei Jahren war sich Krumbein noch sicher, dass es dazu nicht kommen würde. Ein Krieg berge zu viele politische, wirtschaftliche und militärische Risiken für die Volksrepublik. So hielt er die chinesische Wirtschaft 2019 für zu schwach, ein Krieg wäre ein zusätzliches Risiko gewesen. Durch die Pandemie hat sich die wirtschaftliche Situation Chinas jedoch nicht gebessert und eine Wirtschaftskrise im Reich der Mitte könnte die Legitimität der Parteiherrschaft bedrohen. Daher „könnte es für die KP in einer ausgeprägten Wirtschaftskrise auch attraktiv sein, aggressiv gegen Taiwan vorzugehen. Durch den außenpolitischen Konflikt brächte sie die Bevölkerung hinter sich“, so Krumbein. Zumal immer mehr Festland-Chinesen eine Annexion der Insel befürworten.
"Wenn der Abschwung für Chinas politische Führung zu einem besorgniserregenden Problem wird, müssen wir sehr vorsichtig sein", erklärte auch Taiwans Außenminister Joseph Wu in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters. Wenn es Xi nicht gelänge, das Wachstum der chinesischen Wirtschaft aufrechtzuerhalten, könnte die Legitimität seiner Herrschaft infrage stehen. Mit einer Annexion Taiwans könnte er diese wiederherstellen.
Entsprechend harsch reagiert die Volksrepublik auch auf den Pelosi-Besuch: Neben den Militärübungen erlässt China Wirtschaftssanktionen gegenüber Taiwan. So wird kein Sand mehr auf die Insel geliefert und der Import von Fisch wurde reduziert. Gleichzeitig befürchtet die taiwanische Regierung eine See- und Luftblockade durch die Manöver. Das taiwanische Militär sprach nach Angaben der Nachrichtenagentur CNA zudem von einem "schweren Verstoß" gegen Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen und einer Verletzung der Souveränität des Landes. Taiwans Transportministerium hat sich bereits mit Japan und den Philippinen beraten, um alternative Schiffsrouten festzulegen, während die Manöver abgehalten werden. Auch wurde mit den Luftfahrt- und Seebehörden Taiwans beraten, wie reagiert werden soll.
Wie realistisch ist eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen China und Taiwan?
Ob die Volksrepublik eine kriegerische Auseinandersetzung auch gewinnen kann, ist fraglich. Taiwan ist gut befestigt und könnte sich lange verteidigen. Außerdem dürfte es Unterstützung von den USA erhalten – das zumindest haben sowohl Präsident Joe Biden als auch Nancy Pelosi betont. China ist sich dessen durchaus bewusst, daher sind die Militärausgaben seit 2018 stärker als in den Jahren zuvor gestiegen und liegen mittlerweile laut SIPRI bei fast 300 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021. Eine „Annektion“ Taiwans wäre also kein Vorgang wie der in Hongkong, sondern mit einer weitreichenden militärischen Aktion verbunden.
Das sieht auch Didi Kirsten Tatlow so. Sie ist Senior Fellow im Asienprogramm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). „Um Taiwan zu annektieren, muss China Appetit auf Krieg haben“, erklärt die langjährige China-Korrespondentin der New York Times.
Entscheidung bis 2030
Politologe Krumbein sieht dafür einen Zeithorizont von fünf bis acht Jahren. „Diese Zeit braucht das chinesische Militär, um so stark zu werden, dass es eine Annexion Taiwans erfolgreich durchführen kann“, weiß Krumbein. Spätestens in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre werde es auch wegen des dann nahenden Endes der Herrschaft Xis wahrscheinlicher, dass die Volksrepublik die Vereinigung mit Taiwan gewaltsam herbeiführt.
„So hat er Zeit gewonnen, um in seiner Amtszeit eines seiner wichtigsten Ziele zu erreichen: Die Vereinigung Taiwans mit der Volksrepublik“, erklärt DGAP-Expertin Tatlow. „Xi ist überzeugt, dass sein Nachfolger das Taiwan-Problem endlos vor sich herschieben wird, und nur er die Autorität hat dieses zu lösen.“
Taiwan-Annexion spaltet Asien
Je weiter Xis Amtszeit fortschreitet, desto wahrscheinlicher wird also eine Annexion Taiwans durch die Volksrepublik. „In Asien würde in solch einem Fall das Chaos ausbrechen“, prophezeit Tatlow. Sie erwartet, dass die Region in unterschiedliche Lager zerfallen würde. „Japan und Südkorea würden wohl die USA unterstützen. In welcher Form ist aber unsicher“, so Politologe Frédéric Krumbein. „Das chinakritische Indien würde sich raushalten.“
„Wie Nordkorea reagieren würde, lässt sich nicht vorhersagen“, ergänzt Tatlow. Da das Regime dort aber ebenso wie die USA und China nukleare Sprengköpfe hat, hätte ein Konflikt um Taiwan sogar das Potenzial, sich zu einem Atomkrieg auszuwachsen.
Handelskrieg zwischen USA und China würde eskalieren
Selbst wenn das schlimmste Szenario einer nuklearen Auseinandersetzung nicht eintritt, hätte eine Annexion Taiwans drastische Folgen für die Weltwirtschaft. So sieht es Jürgen Matthes vom Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Er leitet das Kompetenzfeld Internationale Wirtschaftsordnung und Konjunktur. „Die USA und die Europäische Union würden wohl Sanktionen gegen China verhängen“, erwartet Matthes.
Wie hart diese Bandagen sind, hängt aber auch von der EU-Wirtschaft ab. Und diese befindet sich durch die zwei Jahre lange Pandemie, den Ukraine-Krieg, die Russland-Sanktionen und die einhergehende Energiekrise bereits am Rande einer Rezession.
Allerdings ist zu erwarten, dass die USA nicht nur um Solidarität bitten würden, sondern diese zur Not auch mit entsprechenden Strafzöllen auf EU-Produkte versuchen würden durchzusetzen.
Deutschlands enge Verflechtung mit China
Die Volksrepublik ist einer der wichtigsten Handelspartner der USA, Deutschlands sowie der EU. Im Jahr 2021 wurden nach Angaben von Destatis Waren im Wert von 245,9 Milliarden Euro zwischen Deutschland und der Volksrepublik China gehandelt (Im- und Exporte zusammengenommen). Deutschland erwirtschaftet laut einer Studie des Brüsseler Think Tanks Bruegel 2,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts mit Ausfuhren in die Volksrepublik.
Dabei sind einzelne deutsche Firmen in hohem Maß von ihrem China-Geschäft abhängig. Volkswagen verdiente dort 2018 fast jeden vierten Euro. BASF machte zehn Prozent seines Umsatzes, Linde sieben Prozent im Reich der Mitte. Siemens und BMW erwirtschafteten jeweils sechs Prozent ihrer Erlöse in der Volksrepublik. „Verlören deutsche Unternehmen durch ein Embargo den Zugang zum chinesischen Markt, wären einige der rund 5.000 dort tätigen Firmen in ihrer Existenz bedroht“, befürchtet Ökonom Christian Rusche, China-Experte des IW.
Deutsche Unternehmen hatten 2018 zudem gut 82 Milliarden Euro in China in Fabriken und Anlagen investiert, meldet das Bundeswirtschaftsministerium. „Peking könnte auf Sanktionen daher mit massivem Druck auf deutsche Investoren reagieren“, so die Sorge von IW-Außenwirtschaftsexperte Jürgen Matthes. Dabei könnte Peking die Repressionen in feinen Stufen bis zu Enteignungen deutscher Unternehmen oder der Verhängung eines Verkaufsverbots für ihre Produkte hocheskalieren.
Große Sorge um die Rohstoff- und Halbleiterversorgung
Ein Konflikt um Taiwan hätte allerdings auch ohne Sanktionen der USA und der EU gegen China verheerende wirtschaftliche Folgen. So käme der innerasiatische Handel zum Erliegen. China könnte den Export seltener Erden und anderer kritischer Rohstoffe einstellen. Lieferketten zu chinesischen und taiwanischen Zulieferern würden unterbrochen – zumal viele taiwanische Unternehmen in China fertigen lassen.
Besonders besorgt blicken Unternehmen und die Politik auf die taiwanischen Halbleiterunternehmen. Sie versorgen die Welt mit Chips. Was ein Mangel an den Kleinstbauteilen bedeutet, davon weiß (nicht nur) die Automobilindustrie seit 2020 ein Lied zu singen. Mit einem Weltmarktanteil von rund 55 Prozent ist TSMC (Taiwan Semiconductor Manufacturing Company) der größte Auftragsfertiger der Halbleiterindustrie. Gemeinsam haben Taiwan und China einen Anteil von rund 82 Prozent am globalen Markt für die Halbleiter-Auftragsfertigung.
„Vor allem die Bedeutung, die TSMC für das globale Ökosystem der Halbleiterbranche hat, kann man eigentlich nicht überschätzen“, erklärt Jan-Peter Kleinhans von der Stiftung Neue Verantwortung. „Die Kollateralschäden, die ein Ausfall des Unternehmens in anderen Branchen verursachen würde, ebenfalls nicht.“ Denn zumindest indirekt sind die Taiwaner Schlüssellieferant für Unternehmen aus einer Vielzahl von Bereichen. Neben TSMC beherrscht nur Samsung in Südkorea die Fertigung von Chips mit Nodes im ultradünnen Bereich von fünf Nanometern.
Aus diesem Grund lassen von Apple bis Xilinx fast alle US-Halbleiterunternehmen ihre Chips bei den Taiwanern fertigen – aus Mangel an eigenen Produktionsstätten. Mit Folgen, denn im Fall eines chinesischen Einmarschs in Taiwan würden sie von den dortigen Fertigungskapazitäten abgeschnitten.
Doch nicht nur US-Unternehmen wären direkt von einem möglichen Ausfall TSMCs betroffen, denn die Lieferketten gehen weiter: Beispielsweise entwickelt Mercedes-Benz gemeinsam mit Nvidia ein Computersystem für autonome Fahrzeuge sowie eine Computing-Infrastruktur, die den Einsatz künstlicher Intelligenz in Autos ermöglich. „Nvidia ist einer der wichtigsten Kunden von TSMC. Bei einem Ausfall der Taiwaner würde also die Lieferkette von Mercedes reißen“, verdeutlicht Kleinhans.
So ist es kein Wunder, dass die Exportbranche angesichts des aufziehenden Gewitters in Ostasien anfängt, mit den Zähnen zu klappern: "Taiwan ist durch seine Elektro- und Halbleiterindustrie ein wichtiger Bestandteil in vielen Sektoren der Weltwirtschaft", sagte BGA-Präsident Dirk Jandura der "Rheinischen Post". Eine weitere Verschärfung des Konflikts zwischen den USA und China hätte weitreichende Folgen. "In unserer hochtechnologischen Welt ist in nahezu jedem Elektronikprodukt ein Bestandteil aus Taiwan verbaut. Das reicht von Laptops, Smartphones, Autos, Waschmaschinen bis hin zu einfachen Leuchtmitteln", sagte der Chef des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA).
"Angesichts der derzeitigen geopolitischen Instabilitäten halten wir es für zielführender, auf Provokationen zu verzichten", sagte Jandura. "Das Letzte, was wir brauchen, ist eine weitere Eskalation des Konflikts und Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen zwei unserer nach wie vor wichtigsten Handelspartner: USA und China", betont der Verbandspräsident - und verdeutlicht auf diese Weise das Dilemma, in das sich die deutsche Politik und große Teile der Wirtschaft seit Jahren hineinmanövriert haben.