Ein Technologiesprung im Beschaffungsmanagement steht an, wenn GenAI künftig Preise und Verträge verhandelt.

Ein Technologiesprung im Beschaffungsmanagement steht an, wenn GenAI künftig Preise und Verträge verhandelt. (Bild: Chiew - stock.adobe.com)

Werden Unternehmen ihre Einkaufsprozesse künftig über GenAI vollautomatisch steuern? Und handeln diese Anwendungen dann selbsttätig untereinander Preise und Verträge aus? Was nach Zukunftsmusik klingt, entwickelt sich zum neuen Goldstandard für Einkäufer und Supply Chain Manager. Mithilfe von datengestützten Entscheidungen können Beschaffungsteams die Widerstandsfähigkeit ihrer Unternehmen steigern. Und die Wachstumsziele bleiben erreichbar – trotz makroökonomischer Volatilität und geopolitischer Verschiebungen.

 

Ein Black Swan ist ein plötzlich eintretendes Ereignis, das die Lieferkette von Unternehmen durcheinanderwirbelt. Dazu gehörten in den vergangenen, so krisenreichen Jahren etwa der Containerriese, der die Durchfahrt im Suez-Kanal versperrte, und auch die Covid-Pandemie. Bei der Zollpolitik der neuen US-Administration dagegen stellt sich der Fall gänzlich anders dar. Auf dieses sogenannte 'Grey Rhino'-Ereignis konnten sich die Lieferketten-Strategen in den Planungsabteilungen einstellen. Das Szenario war vorhersehbar.

Zunächst traten im März US-Zölle von 25 Prozent auf Importe von Stahl und Aluminium aus der EU in Kraft. Im April folgte ein ebenso hoher Satz speziell auf Automobil-Importe. Zudem gilt bis auf weiteres ein sogenannter reziproker Basiszoll von zehn Prozent auf Einfuhren der EU in die größte Volkswirtschaft der Welt. Die Entwicklung in den nächsten Wochen und Monaten bleibt jedoch ungewiss. Klar ist, dass schon die Unsicherheit über künftige Handelsschranken viele Unternehmen vor ein Dilemma stellt: Sollen sie jetzt handeln oder die Turbulenzen lieber aussitzen?

Drahtseilakt für Planer, Lieferkette zu managen

Die Lieferkette zu managen, ist für viele Unternehmen zum Drahtseilakt geworden. Die Auswirkungen der US-Importzölle auf Unternehmen in der EU können je nach Branche beträchtlich sein. Absätze werden wegen der möglicherweise folgenden Preiserhöhungen reduziert, die Rentabilität könnte sinken. Durch den externen Schock der US-Zollpolitik werden viele Unternehmen planen, aufwendige Umbauarbeiten in ihrer Lieferkette umzusetzen. Schlüsselfragen sind hier, welche langfristigen Auswirkungen die Zölle auf Lieferantenbeziehungen und Vertragsverhandlungen, auf den Materialfluss oder das Lagerverhalten haben werden.

Transparenz durch Advanced Analytics und GenAI erhöhen

Ob es sich nun um ein Black Swan- oder Grey Rhino-Ereignis handelt: Um schnell und effizient auf Lieferkettenunterbrechungen reagieren zu können, braucht es vor allem Transparenz entlang der gesamten Lieferkette. Verlässliche Daten sind dafür der Schlüssel. Sie müssen oft erst aus vielen Puzzleteilen zusammengesetzt werden: Produktion, Produktentwicklung, Einkauf und Verkauf verfügen über große Datenmengen, die sowohl aus internen Quellen wie Spezifikationen oder Ausgabedaten als auch auf externen Quellen wie Marktanalysen oder Lieferanten-Informationen stammen.

Liegt die gemeinsame Datenbasis vor, können Unternehmen mit den neuesten Technologien wie Advanced Analytics und GenAI ihre Wertschöpfungskette über alle Ebenen hinweg durchleuchten. Schwachstellen werden aufgedeckt, vorbeugend Frühwarnsysteme aufgebaut und schließlich Entscheidungen ermöglicht, die weit mehr als die traditionellen Kennzahlen wie Kosten, Qualität, oder Lieferfristen einbeziehen.

Was ist GenAI?

GenAI steht für 'Generative Artificial Intelligence' (generative Künstliche Intelligenz). Sie beschreibt KI-Systeme, die in der Lage sind, eigenständig neue Inhalte zu erzeugen – etwa Texte, Bilder, Code oder sogar Musik. Im Unterschied zu klassischer KI, die meist auf die Analyse und Mustererkennung in bestehenden Daten beschränkt ist, generiert GenAI aktiv neue, originelle Ergebnisse.

Category Management automatisieren

Wie Künstliche Intelligenz eine ganz neue Qualität schafft, lässt sich am besten anhand von einigen Anwendungsfällen veranschaulichen. Algorithmen für maschinelles Lernen erkennen zum Beispiel Muster und Trends bei den Rohstoffpreisen. Sie fügen dabei interne Informationen mit externen Marktdaten zusammen. Automatisiert werden die jeweiligen Category Manager über Chancen oder Risiken der Preisentwicklung informiert. Unternehmen werden in die Lage versetzt, die Soll-Kosten der benötigten Rohstoffe, die besonders starken Schwankungen unterliegen, dynamisch zu berechnen und mit den Lieferanten auf der Grundlage dieser Fakten besser zu verhandeln.

In der 'alten Welt' werden Kandidaten für Lieferanten anhand von Branchenpublikationen und Datenbankabfragen ermittelt. Auch hier treten wir in eine neue Ära ein. GenAI kombiniert Suchbegriffe mit kompetenzbasierten, oft sehr spezifischen Anforderungen, um schnell verlässliche Ergebnisse zu erzielen. Dazu können die zugrundeliegenden Large Language Models (LLM) öffentlich zugängliche Informationen filtern und mit unternehmenseigenen Lieferantendaten vergleichen. Sie suchen umfassend nach potenziell relevanten Lieferanten für verschiedenste Materialien und Dienstleistungen. Das kann insbesondere mit Blick auf drohende Zölle von sehr hohem Wert sein.

Diese Rolle spielt GenAI bei Preisanalysen und Lieferantenwahl

In ähnlichen großen Sprüngen schreiten Anwendungen für das Vertragsmanagement voran. LLMs, die auf einer Datenbank von Verträgen trainiert wurden, können in schnellster Zeit einen ersten Vertragsentwurf aufsetzen. Auch individuelle Klauseln für bestimmte Lieferantenvereinbarungen lassen sich in hohem Tempo erstellen. GenAI kann sicherstellen, dass Preise und Rabatte auf einer Rechnung mit dem Rahmenvertrag übereinstimmen. Sollte eine Lieferantenrechnung einen höheren Preis als vereinbart aufweisen, schlägt GenAI Alarm. Das Beschaffungsteam kann eingreifen und Wertverluste reduzieren.

Es wird klar, dass Einkäufer künftig kaum darum herumkommen, künstliche Intelligenz, wie GenAI-Technologien, in ihren Werkzeugkasten aufzunehmen. Die Tools helfen, das Category- sowie Vertragsmanagement zu optimieren, neue Lieferanten zu identifizieren oder Bedarfsprognosen zu verbessern. Unternehmen, die auf eine datengestützte Entscheidungsfindung setzen, können damit ihre Rentabilität erhöhen, wie eine Analyse von McKinsey zeigt. Ihre EBITDA-Margen liegen um mindestens fünf Prozentpunkte höher als die von Wettbewerbern.

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Was bedeutet GenAI verhandelt mit GenAI für den Einkauf?

Der beschriebene technologische Wandel erfordert große Anstrengungen in den Unternehmen, nicht nur im Hinblick auf die Dateninfrastruktur – der gesamte Beschaffungsprozess wird sich grundlegend verändern. In Zukunft werden nicht mehr nur Einkäufer über Preise sprechen. GenAI-Anwendungen werden in der Lage sein, Verhandlungen mit Lieferanten zu übernehmen. Dass dies alles andere als Science-Fiction ist, sieht man längst in den Banken dieser Welt. Dort handeln Algorithmen untereinander Preise aus und setzen Transaktionen für Waren autonom um.

Auch in den automatischen Ausschreibungssystemen innerhalb des Lieferantennetzwerks eines Unternehmens können „Robots“ miteinander kommunizieren und Verhandlungen übernehmen. Das Jobprofil von Einkäufern dürfte sich im Zuge dessen wesentlich verändern. Und sie werden an Effizienz gewinnen, weil sie nicht mehr einen Großteil ihrer Zeit damit verbringen, einzelne Ausschreibungen und Preisverhandlungen zu verwalten. Ihr Fokus verschiebt sich darauf, das gesamte Ökosystem ihrer Lieferanten effizienter zu machen, Margen zu sichern oder zur Kreislaufwirtschaft beizutragen. Alles Aufgaben, die hohe Relevanz für die Wertschöpfung von Unternehmen haben.

Wie Unternehmen die technologische Transformation meistern

Nach einer Erhebung von McKinsey erwarten Führungskräfte des Beschaffungswesens, dass Daten, Analysen und Künstliche Intelligenz bis 2030 eine zentrale Rolle bei allen Geschäftsentscheidungen spielen werden. Dass noch ein weiter Weg vor vielen Unternehmen liegt, zeigt die Umfrage ebenso deutlich: Die Verantwortlichen halten ihre Dateninfrastruktur nicht für bereit. Ein Fünftel der Befragten ist der Meinung, dass die Dateninfrastruktur nicht ausgereift genug ist; in weniger als 70 Prozent der Fälle sind Ausgabedaten an einem Ort gespeichert.

Wie leiten Unternehmen eine solche durch Künstliche Intelligenz getriebene Revolution also ein? Eines liegt auf der Hand: Sie wird nicht über Nacht stattfinden. Um GenAI ins Beschaffungsmanagement zu integrieren, bedarf es einer robusten Dateninfrastruktur und im Frühstadium einer kleinen Anzahl wirkungsvoller Anwendungsfälle. Auch sollten sich Unternehmen mit dem Stakeholder Management sowie den benötigten Optimierungen in den Prozessen und des Operating Models auseinandersetzen. Nicht zuletzt braucht es ein massives Up- oder Re-Skilling der Teams, um die Effekte zu skalieren.

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Welche Chancen und Anforderungen die neue Einkaufsära bringt

Zusammengefasst stehen wir heute am Anfang einer neuen Generation der Beschaffung, die durch die Integration von GenAI-Anwendungen in alle Prozesse entlang der Lieferkette geprägt sein wird. Die vielen Krisen der jüngsten Zeit – von Containern, die Kanäle blockieren, bis zu politischen Verschiebungen auf globaler Ebene – werden ein wesentlicher Treiber der Revolution sein. Zu erwarten ist im Zuge dieses Wandels auch, dass die Bedeutung der Beschaffung im Unternehmen erheblich weiterwachsen wird. Der Einkauf darf nicht mehr nur als bloße Einsparungsfunktion gesehen werden. Er sollte eine führende Rolle für das Nachhaltigkeits-, Gewinn- und Risikomanagement spielen und kann sich als Kernfunktion für einen Platz im Vorstand qualifizieren.

überarbeitet von: Dietmar Poll

Über den Autor:

Mauro Erriquez ist Senior Partner bei McKinsey & Company Operations Practice und leitet weltweit die Product Development und Procurement Arbeit des Unternehmens. Von Frankfurt aus berät er Kunden in den Bereichen Wertschöpfung, Strategie und Wachstum mit Schwerpunkt auf der Werkstoff-, Automobil- und Maschinenbauindustrie.

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