Humanoide Roboter, die sich frei im Raum bewegen, können im Metaverse trainiert werden. Schunk arbeitet an der Entwicklung eines digitalen Zwillings seiner humanoiden Roboterhand.

Humanoide Roboter, die sich frei im Raum bewegen, können im Metaverse trainiert werden. Schunk arbeitet an der Entwicklung eines digitalen Zwillings seiner humanoiden Roboterhand. (Bild: Schunk)

Herr Gessmann, ist „Metaverse“ nicht ein typisches Buzzword?

Timo Gessmann: Nein. Wir bei Schunk arbeiten jeden Tag mit dem Metaverse und werden das in Zukunft noch intensiver tun.   

Wie arbeitet Schunk damit?

Gessmann: Wir nutzen die Kraft von Software und Simulation. Damit erleichtern wir unseren Kunden etwa den Einstieg in die Automation. Wir bieten ihnen sehr schnell eine ausgereifte und hochproduktive Lösung, die auf ihre Fertigungsaufgaben hin optimiert ist.

Warum ist das Metaverse so wichtig für Ihr Unternehmen?

Gessmann: Das Metaverse bietet eine Antwort auf die Frage: Wie automatisieren wir eine flexible Produktion? Und diese Frage ist für uns als Pionier im Bereich Spanntechnik, Greiftechnik und Automatisierungstechnik natürlich zentral. Wir beobachten in allen Branchen, dass sich die industrielle Produktion ändert und damit auch die Anforderungen der Kunden an unsere Produkte.

Neben High-Volume und Low-Mix wächst der Markt für High-Mix und Low-Volume. Ein klassischer, aber seltener werdender Fall ist, dass eine Anlage immer dasselbe Bauteil in hohen Stückzahlen produziert. Dort wiederholen Roboter und Greifer immer dieselbe Bewegung. In so einem Fall ist es relativ leicht, anhand von CAD-Daten im Vorfeld zu planen, wie die Anlage aussieht und welche Komponenten wie zusammenspielen. Jedoch sind die Anforderungen inzwischen oft andere.

Industrial Metaverse Conference
(Bild: SV Veranstaltungen)

DIe Industrial Metaverse Conference erkundet die neuesten Entwicklungen und Innovationen an der Schnittstelle von Industrie und virtuellen Welten. Die Konferenz bringt führende Experten, Technologen und Geschäftsstrategen zusammen, um Einblicke in die Verwendung von Metaverse-Technologien in der Fertigung, Automatisierung und digitalen Transformation zu teilen.

Weitere Informationen gibt es hier: Zur Industrial Metaverse Conference.

Wie lauten diese veränderten Anforderungen?? 

Gessmann: Variantenvielfalt. Eine Anlage muss in der Lage sein, heute Produkt A herzustellen, morgen Produkt B und übermorgen C. Es kommen viele unterschiedliche Fertigungsaspekte und Variablen zusammen. Zum Beispiel: Kann ein und derselbe Greifer kleine Teile sanft greifen, große Stahlteile hingegen kraftvoll? Wie schnell ist die Verfahrgeschwindigkeit, wie schnell reagiert das System? Wenn man dies alles in der physischen Realität aufbaut und testet, braucht das viel Zeit und Energie. Im Metaverse geht das wesentlich schneller.

Was ist hier einfacher als in der Realität?    

Gessmann: Dort können wir komplexe Anlagen rasch und mit wenig Aufwand konzipieren und danach in zahlreichen Varianten testen und simulieren. Außerdem optimieren wir im Metaverse die Anlagen auf Produktivität, bevor sie überhaupt gebaut werden. Das bedeutet, dass unsere Kunden ihre Produktionsanlagen nicht nur viel schneller erhalten, sondern auch sofort hochproduktiv starten.

Wie kommt Schunk ins Metaverse? 

Gessmann: In fünf Stufen. Jede davon bringt uns einen Schritt näher zum perfekten digitalen Zwilling. Stufe eins haben wir bereits abgeschlossen: Zu all unseren 13.000 physischen Komponenten liegen CAD-Modelle für digitales Engineering vor. Das reicht aber für die Simulation einer flexiblen Produktion noch nicht aus. Darum haben wir unsere wichtigsten mechatronischen Produkte schon auf Stufe zwei gebracht. Hier sind im digitalen Zwilling elektrische Eigenschaften hinterlegt, wie Stromverbrauch oder Spannung. Aber auch Schnittstellen wie etwa Druckluftverbrauch oder Sensorik. Besonders spannend wird es dann ab Stufe drei. 

Timo Gessmann ist CTO beim Technologiepionier SCHUNK. Auf der Veranstaltung „Industrial Metaverse Conference“ spricht er zum Thema „Metaverse im Maschinenbau“. Der Kongress findet am 25. und 26. Februar in München statt.
Timo Gessmann ist CTO bei Schunk. Auf der Industrial Metaverse Conference spricht er zum Thema „Metaverse im Maschinenbau“. Der Kongress findet am 25. und 26. Februar in München statt. (Bild: Schunk)

Was geschieht denn auf dieser Stufe? 

Gessmann: Hier sind auch die Kommunikationsschnittstellen hinterlegt. Vor allem aber geht es um Produkte, die künstliche Intelligenz nutzen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Das 2D Grasping-Kit von Schunk ist eine Anwendungslösung zum Greifen und Sortieren verschiedener, unsortierter Bauteile.

Es ist ein einfacher Einstieg in die Automatisierung, denn das Kamerasystem erkennt selbstständig die Bauteile und ihre Lage und berechnet die besten Griffpunkte. Die Kunden brauchen keinerlei Vorkenntnisse in Programmierung oder Bildverarbeitung. Das funktioniert nur, weil wir vorher die KI des unseres 2D Grasping-Kits anhand der konkreten Aufgabe im Metaverse trainieren.  

Was trainiert die KI alles? 

Gessmann: Theoretisch alles – das ist ja das Schöne! Im Metaverse können wir ohne großen Aufwand sämtliche Varianten trainieren. Die KI lernt zum Beispiel, unterschiedliche Bauteile zu erkennen: Ist es eine Metallschraube oder ein Glasröhrchen? Wir trainieren bei allem unterschiedliche Positionen, Beleuchtungssituationen, Verschmutzungsgrade, mögliche Beschädigungen am Bauteil und so weiter – alles auf Knopfdruck.

Wir beschreiben und simulieren also den physischen Prozess im Metaverse, um anschließend das beste Ergebnis daraus in der realen Welt zu validieren. Zum Beispiel in einem unserer weltweit 15 CoLabs – das sind die Roboter-Applikationszentren von Schunk.

Podcast: Prof. Bauernhansl über das Industrial Metaverse

Diese Podcast-Folge wurde im Juni 2024 aufgenommen.

Welche Ziele hat sich Schunk im Metaverse gesetzt? 

Gessmann: Wir wollen die komplette Physik unserer realen Automatisierungslösungen perfekt simulieren. Das sind dann die Stufen vier und fünf. Auf der Hannover Messe 2024 haben wir einen digitalen Zwilling einer Automatisierungszelle auf Stufe fünf präsentiert; basierend auf der Nvidia Omniverse Plattform.

Der Use Case der Simulation ist „Greifen und Zuführen“. Der digitale Zwilling bildet physikalische Eigenschaften wie Geschwindigkeit, Reibkraft, Haftkraft und vieles andere ab. Die Simulation berücksichtigt sogar, dass Schmierfett in der Anlage je nach Alter und Temperatur unterschiedlich leichtgängig ist und sich somit auf die Prozesse auswirkt.  

Ist so eine tiefe Simulation schon einsatzfähig? 

Gessmann: Für einen echten industriellen Roll-out noch nicht. Dazu gibt es noch zu große Schwächen bei Genauigkeiten im Mikrometerbereich oder bei der Langfristsimulation – man spricht hier vom sogenannten Sim2Real Gap. Aber die Technologien rund ums industrielle Metaverse entwickeln sich sehr schnell weiter.

Wir bei Schunk wollen diese Entwicklung mitgestalten. Und ich möchte auch andere Unternehmen ermutigen, sich an dieses Thema zu trauen. Gehen Sie mutig rein! Denn wissen Sie, was das Wichtigste ist?

Was denn? 

Gessmann: Kooperation. Wir bei Schunk setzen auf Zusammenarbeit, knüpfen Netzwerke und bringen uns aktiv ein. Wir haben gelernt, dass man gemeinsam mit anderen schneller vorankommt – das gilt ganz besonders für technologische Zukunftsthemen. Zum Beispiel arbeiten wir im Bereich KI mit vielen Unternehmen zusammen und engagieren uns am IPAI, dem künftigen europäischen Kompetenzzentrum für angewandte KI in Heilbronn.

Die Fortschritte hier erreichen wir, weil wir uns untereinander vertrauen, austauschen und gemeinsam KI in die Anwendung bringen. So kommen wir alle schneller voran. Das wird auch beim Metaverse so sein.

Apropos Fortschritte: Wo sehen Sie in der Zukunft noch Möglichkeiten, Metaverse-Technologien einzusetzen? 

Gessmann: Die voll-durchsimulierte Smart-Factory wird kommen. Und abseits der engen Fertigungssimulation gibt es natürlich im unternehmerischen Umfeld noch vieles, was sich digital durchspielen und verbessern lässt. Ich denke da an Kernprozesse wie Entwicklung und Vertrieb. Aber da hört es noch längst nicht auf. Was ist zum Beispiel mit dem nicht so einfach greifbaren Wissen in den Köpfen von Mitarbeitenden?

Ich kann mir Wege vorstellen, über viele Jahre erlerntes Prozesswissen von Fachkräften mithilfe von KI zu digitalisieren. In Europa gehen gerade viele Menschen in ihre wohlverdiente Rente. Das könnte ein Weg sein, deren Wissen und Erfahrung im Unternehmen zu erhalten.

Wie soll das funktionieren? 

Gessmann: Man spricht hier von digitalen Agenten. Stellen Sie sich einen Profi-Radrennfahrer vor. Er kann hervorragend Rad fahren, wird Ihnen aber nicht beschreiben können, wie genau er das tut. So ist das mit einem exzellenten Maschinenbediener einer Fünfachs-Drehmaschine auch.

Da ist viel Erfahrung und Bauchgefühl dabei. Wenn wir mithilfe der KI sämtliche Bedienungsparameter und Maschinendaten auswerten und in einen digitalen Zwilling überführen – dann könnte das wertvolle Prozesswissen erhalten bleiben. Das ist aber vorerst eher eine Vision. 

Wenn wir schon bei Visionen sind: Wie sieht es mit humanoiden Robotern in der Industrie aus? 

Gessmann: Sie sind der konsequente weitere Schritt nach dem Cobot. Humanoide Roboter, die sich frei in einem Raum bewegen und Tätigkeiten ausführen – das ist natürlich eine riesige Chance für unsere Lebens- und Arbeitswelt und keineswegs nur im industriellen Umfeld interessant. Aber die echte Welt und freie Bewegungen in ihr sind extrem variantenreich und komplex. Im Krankenhaus oder in Fertigungsbereichen unterscheiden sich die Aufgaben und Umgebungsbedingungen immens.

Hierfür brauchen wir eine präzise Simulation der gesamten realen Welt im Metaverse, in welcher der digitale Zwilling des Roboters trainiert werden kann. Wir bei Schunk haben eine humanoide Roboterhand entwickelt, die die menschliche Hand nachbildet. Derzeit arbeiten wir daran, diese im Metaverse auf die höchste Simulationsstufe fünf zu bringen. Auf diese Weise gestalten wir den technologischen Fortschritt in allen Automatisierungsbereichen und setzen uns für eine gesündere Arbeitswelt ein.

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