
Timo Gessmann ist CTO bei Schunk. Auf der Veranstaltung "Industrial Metaverse" hält er einen Vortrag zum Thema "Metaverse im Maschinenbau – so arbeitet Schunk an der digitalen Zukunft". Der Kongress findet am 9. und 10. Juli in Ludwigsburg statt. (Bild: Schunk)
Was kann das Metaverse leisten, das bisher so nicht möglich war?
Timo Gessmann: Wir bieten Spanntechnik, Greiftechnik und Automatisierungstechnik an: Unser Portfolio umfasst über 13.000 physische Komponenten, die man in den unterschiedlichsten Anwendungen weltweit einsetzen kann. Sie kommen etwa in großen Fertigungsanlagen in Automotive, Elektronik, Logistik oder Life Science zum Einsatz, in denen viele unterschiedliche Fertigungsaspekte zusammenspielen. Diese Vielzahl von Komponenten zu optimalen Gesamtsystemen zusammenzubringen, ist in der physischen Welt unheimlich aufwendig.
Es kostet viel Zeit, Energie sowie personelle und materielle Ressourcen, diese Gesamtsysteme zu entwerfen, aufzubauen, zu validieren und in Betrieb zu nehmen sowie über die gesamte Einsatzdauer zu pflegen. In der virtuellen Welt des Metaverse lassen sich solch komplexe Anlagen viel schneller, einfacher und mit weniger Aufwand konzipieren, in vielen Varianten simulieren und testen, bevor sie so auf Produktivität hin optimiert und schließlich in der realen Welt gebaut werden. Am Ende können wir damit wesentlich zügiger und passgenauer Produkte und Lösungen für unsere Kunden entwickeln.
Wie wichtig ist der Digitale Zwilling für das Metaverse?
Gessmann: Der Digitale Zwilling spielt eine entscheidende Rolle im Metaverse, da er die Brücke zwischen der physischen und der digitalen Welt bildet. Dadurch gelingt es, reale Prozesse und Systeme digital abzubilden und zu simulieren. Wir befinden uns aktuell in einem fünfstufigen Prozess, um den Digitalen Zwillings im Metaverse zu verwirklichen.
Letztendlich streben wir danach, dass sich die digitale Welt des Metaverse genauso verhält wie die reale Welt, einschließlich der Einhaltung physikalischer Gesetze. Dieses Ziel ist äußert komplex und erfordert eine beträchtliche Entwicklungsleistung. Der Aufwand lohnt sich jedoch, weil wir hierdurch später deutlich schneller neue Produkte entwickeln und Automationslösungen in allen Branchen umsetzen können.

DIe Industrial Metaverse Conference erkundet die neuesten Entwicklungen und Innovationen an der Schnittstelle von Industrie und virtuellen Welten. Die Konferenz bringt führende Experten, Technologen und Geschäftsstrategen zusammen, um Einblicke in die Verwendung von Metaverse-Technologien in der Fertigung, Automatisierung und digitalen Transformation zu teilen.
Weitere Informationen gibt es hier: Zur Industrial Metaverse Conference.
Wie lange dauert es, die Daten in der richtigen Form und Qualität „Metaverse-ready“ zusammenzubekommen? Wie sieht es mit der Skalierung aus?
Gessmann: Die Umsetzung von Stufe 1 des Digitalen Zwillings gestaltet sich einfach, da CAD-Daten standardmäßig für all unsere Produkte verfügbar sind. Der Weg bis zur Stufe 5 ist deutlich aufwendiger. Für die Entwicklung einer ersten kompletten Automationslösung im Metaverse haben wir circa ein Jahr benötigt. Sind die Grundlagen einmal erarbeitet, lässt sich der Prozess für ähnliche Lösungen deutlich beschleunigen.
Wie ist Schunk hier vorgegangen, wo steht man derzeit auf dem Weg zum Industrial Metaverse?
Gessmann: Wir sind von Anfang an mit dabei, aber zugleich noch lange nicht am Ziel. Dieser Weg erfordert Offenheit und die Bereitschaft zum Austausch und zur Zusammenarbeit. Nur deshalb konnten wir einen bedeutenden Schritt nach vorne machen und eine komplette Roboterzelle im Metaverse entwickeln, die sich genauso verhält, wie wir sie in der physischen Welt aufgebaut haben.
Eine solche Geschwindigkeit ist nur durch die intensive Partnerschaft mit anderen Anbietern, Unternehmen und Forschungseinrichtungen möglich. Allein hätten wir dieses Ziel in einem Jahr nicht erreicht. Unser Motto ‚Innovation through collaboration‘ treibt uns an. Deshalb engagieren wir uns aktiv in Digitalisierungsinitiativen wie Manufacturing-X und dem KI-Netzwerk Ipai in Heilbronn, um die Zukunft gemeinsam mit unseren Partnern aktiv zu gestalten
Schunk hat weltweit Kollaborationslabore ins Leben gerufen: Was steckt hinter dem Konzept und wie werden die CoLabs genutzt, um das Thema Metaverse voranzubringen?
Gessmann: Viele Unternehmen nutzen nur etwa zehn Prozent ihres Automatisierungspotenzials. Oft auch, weil ihnen gar nicht klar ist, was möglich wäre oder weil Fachwissen und Fachkräfte fehlen. In unseren CoLabs zeigen wir anhand konkreter Kundenanforderungen auf, wie sich der Wertschöpfungsprozess automatisieren lässt. Das kann ein Automobilhersteller sein, mit dem wir zusammen validieren, wie sich eine Batterie per Roboter schnell und prozesssicher handhaben lässt. Aber auch kleine Handwerksbetriebe, die Schwierigkeiten haben, qualifizierte Fachkräfte zu finden.
Am Ende geht es immer darum, die Produktivität mit Automatisierung zu steigern. Wenn wir alle Daten im Metaverse hätten, könnten wir all diese Lösungen vorab digital simulieren und Hunderttausende bis Millionen Varianten in der digitalen Welt validieren und damit eine optimale Automationslösung entwerfen. Das Metaverse kann ein unglaublicher Beschleuniger sein.
Muss man als Anbieter in Vorleistung gehen und Überzeugungsarbeit leisten?
Gessmann: Ja, definitiv. Wir gehen in Vorleistung, weil wir die Chancen darin sehen, und zwar nicht nur im Metaverse, sondern auch in der physischen Welt – zum Beispiel eben mit mittlerweile schon 13 CoLabs weltweit. Neue Technologien an konkreten Kundenanwendungen selbst zu erleben und anzuwenden, erzeugt Begeisterung.
Das ist wichtig, um unsere Kunden stärker an die digitale Welt heranzuführen. Wir zeigen Ihnen, wie sie schneller und flexibler im Metaverse Automatisierungslösungen umsetzen können und dadurch noch dynamischer werden.
In 5 Stufen zum realen, digitalen Abbild im Metaverse
Mit dem Digitalen Zwilling werden reale Objekte virtuell im Metaverse abgebildet.
- Stufe 1 sind Aussehen und Dimensionen eines Objekts im CAD-Modell. Diese Stufe des Digitalen Zwillings hat Schunk bereits für alle Produkte umgesetzt.
- Stufe 2 beschreibt die Energieschnittstellen wie Druckluftverbrauch oder elektrische Eigenschaften wie Stromverbrauch und Spannung etwa von mechatronischen Produkten wie Greifern, die als „Hände“ von Robotern elektrisch angetrieben werden. Das hat der Automatisierungsspezialist bereits für seine wichtigsten Produkte umgesetzt.
- Stufe 3 beschreibt, wie mit den Komponenten kommuniziert werden kann. Dazu gehören die Kommunikationsprotokolle wie Profinet, Ethernet, IO-Link oder Bluetooth, über die dem Greifer gesagt wird, dass er öffnen oder schließen soll.
- Stufe 4 erfasst die verschiedenen Funktionen – zum Beispiel, dass der Greifer Glas feinfühlig greift, Stahl hingegen sehr hart, sich schnell oder langsam bewegt. Diese oft umfangreichen Funktionen des physischen Produkts digital zu beschreiben, ist schon deutlich schwieriger.
- Richtig komplex wird es bei Stufe 5: In Zusammenarbeit mit Nvidia hat Schunk für erste Produkte deren komplettes physisches Verhalten beschrieben, etwa Geschwindigkeiten, wie schnell sich der Greifer öffnet oder schließt, Greifkraftverläufe und Reibwerte an den Kontaktflächen zwischen Greifer und gegriffenen Objekt. Dabei kann zum Beispiel auch die Umgebungstemperatur einen Einfluss auf das Verhalten haben. In der Zielvorstellung reagiert der Digitale Zwilling genauso wie in der realen Welt.
Wie kann ein typischer Maschinen- oder Anlagenbauer an das Thema Industrial Metaverse herangehen, welchen Beitrag sollte er selbst leisten?
Gessmann: Es braucht vor allem die Offenheit und Neugier, sich mit diesen Technologien zu beschäftigen. Dass noch gezögert und das Metaverse häufig nur als Buzzword wahrgenommen wird, ist eine große Hürde. Deshalb ist es auch so wichtig, real an pragmatischen ersten Lösungen und Beispielen zu zeigen, was jetzt schon möglich ist.
Denn wie gesagt: Hier kommt niemand allein voran, es braucht Interoperabilität. Die Kooperation von allen ist entscheidend, damit es funktioniert. Wird etwa ein Automobilwerk gebaut, müssen Millionen von Teilen im Metaverse verfügbar sein. Nur dann lässt sich der optimale Prozess finden, der Planungsaufwand drastisch reduzieren und der Output maximieren.
Wie hängt die Etablierung von Manufacturing-X mit dem Metaverse zusammen?
Gessmann: Manufacturing-X zielt darauf ab, Standards für den sicheren Datenaustausch aller Beteiligten im Maschinen- und Anlagenbau sowie bei der Herstellung physischer Produkte zu schaffen. Diese Standards sind die Voraussetzung, um Digital Twins für komplette Fertigungsprozesse zu ermöglichen. Es ist entscheidend, dass all diese Digitalen Zwillinge miteinander kommunizieren können und die gleiche Sprache sprechen.
Der Datenraum bietet eine einheitliche Schnittstelle für die Darstellung digitaler Modelle und gewährleistet die Kompatibilität der Daten. Das gab es vorher nicht, als noch jeder große Hersteller proprietäre Lösungen entwickelt hat. Diese Standards müssen hier wiederum für alle fünf Stufen des Digitalen Zwillings definiert und umgesetzt werden, einschließlich der physikalischen Eigenschaften.
Das Wochenendbier – Warum das Metaverse mehr als ein Hype ist
Wie verändern sich beispielsweise die Möglichkeiten für exaktere Produktkonfigurationen im Metaverse?
Gessmann: Unser breites Schunk-Portfolio bietet eine enorme Vielfalt mit über 13.000 Produkten, ergänzt durch verschiedene Optionen wie Sensoren, ATEX- oder Reinraum-Varianten. So ergeben sich Hunderttausende mögliche Produktkonfigurationen. Kunden und Anwender ohne Automationserfahrung fällt es oft schwer, die passende Konfigurationen ohne Expertenunterstützung zu wählen.
Durch das Metaverse kann diese Auswahl jedoch deutlich schneller und einfacher erfolgen, indem es die optimale Konfiguration auf Basis der individuellen Kundenanforderungen identifiziert. Hier kann die passende Produktkonfiguration mithilfe von KI auch gleich digital simuliert und validiert werden – und zwar weltweit rund um die Uhr. Ein Vorteil, den die physische Welt nicht bieten kann.
Thema Unternehmenskultur: Wie gelingt es, dass Maschinenbauer, Informatiker, Datenspezialisten und weitere Beteiligte miteinander reden und interdisziplinär arbeiten?
Gessmann: Eine fördernde Kultur ist besonders wichtig: Sie muss von Neugierde, Begeisterung, Mut und offenem Austausch geprägt sein. Intern haben wir viele Formate geschaffen, in denen sich Mitarbeitende aus den Bereichen Maschinenbau, Mechanik, Software, Vertrieb und Produktmanagement miteinander vernetzen. Dazu gehören zum Beispiel regelmäßige Schunk Tech Talks, in denen interne Experten ihre Themen und Erfahrungen an konkreten Beispielen und Anwendungen präsentieren und Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit haben, neue Technologien kennenzulernen und auszuprobieren.
Extern nutzen wir die CoLabs, um den Austausch mit unseren Kunden, aber auch mit anderen Unternehmen, Softwarepartnern sowie Wissenschaft und Forschung zu fördern. Dabei stehen immer das konkrete Beispiel und die Kundenanwendung im Fokus. Im CoLab wird die Lösung am realen Use-Case erarbeitet und dabei zugleich geschult und trainiert.

Welche Hürden gibt es bei den Software-Werkzeugen, mit denen sich das Industrial Metaverse umsetzen lässt?
Gessmann: Einerseits müssen Unternehmen die Kompetenzen und die Infrastruktur zum Einsatz der verschiedenen Software-Tools aufbauen. Dazu gehört es auch, die Mitarbeitenden für das Metaverse zu begeistern und dessen Mehrwert aufzuzeigen. Andererseits sind viele der aktuell verfügbaren Software-Tools noch nicht optimal für industrielle Anwendungen geeignet.
Oft fehlt es den Anbietern an Praxiswissen aus der Industrie, dem Maschinenbau und der Automationsbranche. Ein konkretes Beispiel: Wir haben festgestellt, dass es zunächst im Metaverse nicht vorgesehen war, an einem Roboter verschiedene Greifer anzubinden und diese im Betrieb auch wechseln zu können.
Für uns als Anbieter von sogenannten End-of-Arm-Komponenten wie Greifer, Wechselsysteme, Force-/Torque-Sensoren und Ausgleichseinheiten war das sehr überraschend. Durch unsere enge Zusammenarbeit mit den Softwarepartnern des Metaverse konnten wir diese Funktionalität implementieren und die komplexe physische Welt besser in der digitalen Welt abbilden.
Solche Lernprozesse sind nur durch den direkten Austausch und gemeinsame Anstrengungen, möglich, indem entsprechend Brücken gebaut werden. Diese Erfahrungen zeigen aber auch, wie schnell dieser Lernprozess durch eine starke Partnerschaft gelingt.
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Rückblick:
Inwieweit wird das Metaverse die Landschaft der bestehenden Engineering-Tools und der aktuellen Arbeitsweise von Ingenieuren verändern?
Gessmann: Es wird einen großen Einfluss darauf haben, wie gearbeitet wird. Wenn wir heute ein Produkt entwickeln, dann beginnt es mit einem Anforderungsdokument, gefolgt von der Konstruktion in der CAD-Software. Für die Simulation kommt wieder ein eigenes Tool zum Einsatz, ebenso wie anschließend in der Fertigung und bei der Validierung der Produkte verschiedene Maschinen und Software-Tools eingesetzt werden. Vieles davon wird noch in der physischen Welt aufgebaut und getestet.
Durch den Einsatz von Software, KI und dem Metaverse werden sich künftig alle Engineering-Prozesse stark verändern und weiterentwickeln. Es entsteht ein übergreifender Digital-Engineering-Prozess, der bereits im Metaverse integriert ist. Dadurch können sämtliche Schritte der Produktentwicklung, einschließlich Validierung und Test, bis hin zum Betrieb und Monitoring über den gesamten Produktlebenszyklus im Metaverse abgebildet werden.
Medienbrüche zwischen einzelnen Entwicklungsschritten und Software-Tools können dadurch vermieden und aufwendige physische Prototypen-Fertigungen, Validierungen und physische Rekursionen stark reduziert werden.
Welche Ausbaustufe stellen Sie sich perspektivisch vor? In welchen Bereichen soll Metaverse-Technologie irgendwann zum Einsatz kommen?
Gessmann: Bei neuen Produktentwicklungen müssen heute oft zahlreiche physische Prototypen-Varianten erstellt werden, die durch aufwendige Validierungs- und Testprozesse gehen, bis die optimale Variante für die Serienproduktion ausgewählt wird. Vom Test der einen bis zur anderen Variante vergehen schnell acht bis zehn Wochen. Bei mehreren Prototypen-Varianten summiert sich die Entwicklungszeit entsprechend.
Dieser Prozess kann im Metaverse drastisch beschleunigt werden. Mithilfe von Digital-Engineering-Tools und Simulationen können sämtliche Varianten – skalierbar bis zu Millionen – innerhalb kürzester Zeit digital validiert werden. Dadurch kann die optimale Produktvariante passend zu den Kunden- und Marktanforderungen im Metaverse identifiziert werden. Die Entwicklungszeit verkürzt sich stark, was zugleich nachhaltiger ist, da weniger physische Produktvarianten gebaut und getestet werden müssen.
Am Beispiel eines gesamten Automobil- oder Batteriewerks oder eines Logistikzentrums würde dies unter Berücksichtigung aller Komponenten, Anlagen, Infrastrukturbestandteile einen riesigen Unterschied bedeuten. Im Ziel werden wir unser gesamtes Portfolio in der digitalen Welt abbilden, einfach weil es nachhaltig, wirtschaftlich und für unsere Kunden am besten ist.
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