Blick auf die Kirche des Heiligen Bluts in Jekaterinburg.

Die Stadt Jekaterinburg ist die wichtigste Industriemetropole des Urals. Bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert gibt es in der Stadt Ansiedlungen der Metallindustrie. Die Industrialisierung wurde in den 1930er Jahren intensiviert. - (Bild: nikitamaykov / stock.adobe.com)

Wer Russland hört, denkt an Wodka, Oligarchen und Korruption sowie die viel zitierte russische Seele. Über kaum ein Land gibt es so viele Stereotype und Mythen. Russland verstehen: Für westliche Beobachter ist das nicht einfach. Winston Churchill sagte einst in einer Radioansprache: "Russland ist ein Rätsel, umgeben von einem Mysterium, das in einem Geheimnis steckt."

Das gilt insbesondere auch für die russische Wirtschaft. Wer weiß schon, dass in Russland drei Mal mehr Frauen in Spitzenpositionen der Wirtschaft tätig sind als in Deutschland? Oder, dass sich das Land bereits seit einigen Jahren immer stärker vom Exportmarkt zum Produktionsstandort entwickelt?

PRODUKTION versucht etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Dazu sprachen wir mit Natalia Thieme. Die Betriebswirtin ist Gründerin und Firmeninhaberin des Unternehmens Narucon, das sich für einen deutsch-russischen Brückenschlag einsetzt. Dank ihrer langjährigen Tätigkeit als strategische Einkäuferin und Einkaufsleiterin in mehreren Industrieunternehmen sowie durch Projektarbeit bei der Lokalisierung ausländischer Industrieunternehmen in der GUS-Region, hat sie ein großes Insider-Wissen über die russische Wirtschaft sowie Land und Leute.

PRODUKTION: Frau Thieme, Sie haben einen tiefen Einblick in die russische Wirtschaft. In welcher Verfassung befindet sich gerade die russische Wirtschaft, auch im Hinblick auf die Corona-Pandemie?

Natalia Thieme: Russland ist das größte Land der Welt, aber sein BIP ist halb so hoch wie das von Deutschland und rund zehnmal kleiner als das von China.

Momentan versucht Russland in den Bereichen wie Digitalisierung und Robotik technologische Fortschritte zu erzielen, die zu einem rapiden Wachstum der Wirtschaft führen können. In erster Linie geht es um die Entwicklung der Hightech-Exporte. Dies erfordert eine Veränderung der technologischen Basis und Innovation. Das ist die Art und Weise, in der ich die Interaktion zwischen Deutschland und Russland als sehr vielversprechend ansehe.

Die russische Wirtschaft hat sich meines Erachtens gut von den Auswirkungen der Pandemie erholt. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Russen in den letzten dreißig Jahren an verschiedene Krisen gewöhnt sind. Der Mut aufzustehen und weiter zu gehen, das bezeichnet für mich russischen Geist.

Welche Rolle spielen die Themen Umwelt und Klima in Russland bzw. für die russische Wirtschaft? Inwieweit haben russische Unternehmen diese Themen auf der Agenda?

Das Interesse an einer nachhaltigen, wirtschaftlichen Entwicklung wächst momentan in Russland und entwickelt sich immer stärker zu einer engagierten, bürgerlichen Bewegung.

Verschiedene Bürgerinitiativen wie 2018 in Wolokolamsk gegen die die erheblichen Umweltbelastungen der Deponie Yadrovo oder in der Region Archangelsk gegen den Bau der Deponie Schijes haben sich zusammengefunden und setzen sich für mehr Umweltverträglichkeit in der Abfallwirtschaft ein.

Zu den akutesten Umweltproblemen in Russland gehören der Klimawandel, die Wasser- und Luftverschmutzung sowie eine wachsende Menge an Industrie- und Siedlungsabfällen mit unzureichenden Recyclingkapazitäten. Der Klimawandel führt beispielsweise im Osten des Landes zu weitreichenden Überschwemmungen, die es so noch nie gegeben hat.

"Die Russische Föderation hat eine eigene Umweltindustriepolitik. Das Hauptthema der letzten Jahre: Ressourceneffizienz als Grundlage einer ökologischen Industriepolitik."

Russland produziert jährlich ca. 70 Millionen Tonnen Haushaltsmüll. Verarbeitet werden aber nur zwei bis drei Prozent, da die Infrastruktur zur Sortierung und Verwertung von Abfällen schlecht ausgebaut ist. In der Bevölkerung tun sich immer mehr Freiwilligen-Gruppen zusammen, die getrennten Hausmüll bei den Haushalten einsammeln und in die Entsorgungsbetriebe selbständig bringen. Hier gibt es noch große Lücken, welche durch innovative Abfallverarbeitungsbetriebe gefüllt werden können.

Die Russische Föderation hat eine eigene Umweltindustriepolitik. Das Hauptthema der letzten Jahre: Ressourceneffizienz als Grundlage einer ökologischen Industriepolitik. Auf Unternehmensebene bedeutet die Umsetzung der Ideologie der ökologischen Industriepolitik, die Anwendung der neuesten Technologien und die Einführung der neuesten technologischen Verfahren, die Untersuchung und Umsetzung der besten verfügbaren Technologien und die Schaffung von Expertengemeinschaften. Alle Bemühungen der Unternehmen sollten von den staatlichen Behörden unterstützt werden. Parallel zur Einführung der Grundsätze der ökologischen Industriepolitik wird die Gesetzgebung verschärft, z.B. in Bezug auf die Behandlung gefährlicher Industrieabfälle und die Umweltüberwachung. Umweltfragen, insbesondere die Abfallwirtschaft (feste Siedlungsabfälle), sind für private und öffentliche Unternehmen von großer Bedeutung.

Es gibt einen positiven Trend, dass russische Unternehmen dem UN Global Compact beitreten, Berichte über ihre nachhaltige Entwicklung erstellen und ESG-Kriterien (Umwelt, soziale Entwicklung und verantwortungsvolle Unternehmensführung) in ihre Aktivitäten einbeziehen, und zwar nicht nur bei großen Unternehmen, die auf dem ausländischen Markt tätig sind, sondern auch bei mittelständischen Unternehmen, die auf dem heimischen Markt tätig sind.

Natalia Thieme
Die Russlandexpertin Natalia Thieme ist Gründerin und Firmeninhaberin von Narucon. - (Bild: privat)

Welche Chancen sehen für die deutsche Unternehmen bzw. für deutsche Start-ups in Sachen Umwelt und Klima in Russland?

Gute Chancen sehe ich für Unternehmen welche, Geräte und Technologien zur Überwachung der Umwelt, Technologien für die Ökologisierung der Industrie (Anlagen für die Gasaufbereitung, die Behandlung von Industrieabfällen und -abwässern, Energieeffizienztechnologien), der städtischen Umwelt (Logistik und Verkehr, Bautechnologien, Modernisierung der grünen Infrastruktur und der öffentlichen Räume) und der Versorgungswirtschaft (Technologien für die Behandlung von Siedlungsabfällen, Wasser- und Abwasseraufbereitung, intelligente Städte, Bodensanierung, Technologien für eine nachhaltige Flächennutzung, Technologien für die Abfallwirtschaft) besitzen und auf den Markt bringen wollen.

Zudem gibt es Potential für neue Technologien für die Entsorgung radioaktiver Abfälle.

Start-Ups müssen gute Referenzen haben. Grundsätzlich fragen russische Unternehmen nach aktuellen Referenzen in Russland, bevorzugt aus den letzten 3 Jahren. Referenzen aus Kasachstan, Belarus sind ebenfalls sehr vorteilhaft.

Welches „Standing“ haben deutsche Unternehmen in Russland? Wie werden deutsche Unternehmen von Russen und russischen Unternehmen wahrgenommen?

Zuverlässige, verantwortungsbewusste Partner mit hervorragenden - aber dafür sehr teuren - technologischen Lösungen und mit geringer Flexibilität. An deutschen Unternehmen wird geschätzt, dass diese nicht nur als Lieferant zur Verfügung stehen, sondern bei allen Prozessschritten, bspw. Montage, Inbetriebnahme, Schulung etc unterstützen können. Grundsätzlich ist man in Russland froh, dass man sich auf seine deutschen Geschäftspartner verlassen kann.

Auf was sollten deutsche Unternehmen unbedingt achten, wenn sie in Russland Geschäfte machen wollen?

Man darf sich nicht auf regionale und kommunale Beamte verlassen. Diese verfügen nur über eine sehr geringe Kompetenz. Ein erfolgreicher Markteintritt nach Russland wird in den allermeisten Fällen nur in Zusammenspiel mit russischen Experten und Partnern vor Ort gelingen.

Es funktioniert vieles auf persönlichen Ebenen und nicht immer logisch nach dem deutschen Stereotyp. Allgemeine Anschreiben werden auf russischer Seite ignoriert und nicht beantwortet. Die Geschwindigkeit der Reaktionen auf Anfragen, ob Angebotserstellung oder weitere Informationen sollte seitens der deutschen Partner relativ schnell erfolgen. Russisch sprechendes Personal im deutschen Stammhaus oder in einer Vertretung vor Ort (eigene Vertretung oder Kooperationsbüro etc.) ist von großem Vorteil. Einladungen zum (abendlichen) Geschäftsessen unbedingt annehmen. Die Stereotype vom exzessiven Wodkatrinken sind nicht unbedingt zutreffend. Es hat sich in Russland vieles geändert. Persönliche Beziehungen müssen langfristig aufgebaut und gepflegt werden.

Sie bieten gemeinsam mit dem deutschen Generalkonsulat und der Repräsentanz Industrie- und Handelskammer der Russischen Föderation in Deutschland eine virtuelle Delegationsreise in die baden-württembergische Partnerprovinz Russlands, Swerdlowsk, an. Was macht diese russische Region aus bzw. was macht diese Region besonders reizvoll für deutsche Unternehmen?

Geografisch, politisch und wirtschaftlich markiert die Region Swerdlowsk auch die Grenze zwischen Europa und Asien, sodass der Wirtschaftsstandort Jekaterinburg als Eintrittstor nach Asien gilt. Damit ist Jekaterinburg (1924-1991 Swerdlowsk) als Hauptstadt der Region ein bedeutender Transportknotenpunkt, wo sich sehr viele wichtigen Transportwege Russlands u.a. auch die Transsibirische Eisenbahn kreuzen.

Jekaterinburg ist eine traditionsreiche Industriestadt: Bereits 1793 wurde hier unter Peter I. die erste metallverarbeitende Fabrik eröffnet. In der sowjetischen Epoche war die Stadt eine der wichtigsten Industriestandorte der UdSSR und auch im postsowjetischen Russland hat die Stadt ihre Bedeutung als wichtiger Wirtschaftsstandort nicht verloren.

Die Region Swerdlowsk hat einen großen Anteil an Bergbau und Metallurgie, militärisch-industriellem Komplex und Maschinenbau. Hinzu kommen die chemische Industrie, die Holzindustrie, der agroindustrielle Komplex, die Lebensmittel- und Leichtindustrie. Es ist eine alte Industrieregion. Die Belastung für Umwelt und Klima ist hoch. Nicht alle angefallenen technologischen Abfälle wurden recycelt. In Jekaterinburg findet die wichtigste Industrieausstellung Russlands statt, die internationale Messe INNOPROM. Jekaterinburg könnte man als Wissenschaftsstadt bezeichnen: Die Uraler Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften hat hier ihren Sitz, ebenso wie verschiedene Forschungsinstitute und Labore.

Die Skyline von Jekaterinburg
Die Skyline von Jekaterinburg. - (Bild: ArtEvent ET / stock.adobe.com)

Was die virtuelle Delegationsreise deutschen Unternehmen bietet:

  • Experten-Briefing und interkulturelle Einführung
  • Einzelgespräche nach individuellen Vorgaben
  • Round-Table-Gespräche mit deutschen und russischen Fachexperten
  • Key Notes (30 Jahre Partnerschaft Baden-Württemberg und Swerdlowsk)
  • Firmenbesuche sowie direkte Kontakte zu Entscheidungsträgern
  • Austausch mit Russlandkenner*innen
  • Pitchveranstaltung vor russischem Fachpublikum  

Mehr Informationen zu dieser Veranstaltung finden Sie unter diesem Link.

Für welche Branchen bzw. für welche Unternehmen ist die Region Swerdlowsk besonders interessant?

Für den Maschinenbau, metallurgische Ausrüstung, die chemische Industrie, Umwelttechnik, medizinische Technik, Baumaterialien und Infrastrukturprojekte, Ausrüstung für die Rehabilitation von Kranken und behinderten Kindern.

Was haben deutsche Unternehmen, was russischen Unternehmen fehlt? Und auch andersrum gefragt: Was haben russische Unternehmen, was deutschen Unternehmen abgeht?

Die deutschen Unternehmen haben einerseits eine ausgewogene Risikokalkulation, langfristige Planung, starke Spezialisierung und höchste Ingenieurskunst. Anderseits mangelt es ihnen an Mobilität und Schnelligkeit bei der Bewältigung von Herausforderungen.

Sie haben oft eine sehr lange Tradition auf dem Markt, viele deutsche Familinunternehmen sind Hidden Champions in ihren Branchennischen.  Das wird in Russland sehr geschätzt und anerkannt.

Die russischen Unternehmen zeichnen sich durch eine hohe Kooperations- und Lernbereitschaft aus. Sie haben eine geringere Spezialisierung und sind bereit höhere Risiken einzugehen. Problematisch ist der Mangel an qualifiziertem Personal und an modernen Kompetenzen, kurzfristige Planung.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Thieme.

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