Rüstungsfähigkeit auf Knopfdruck: Im Mittelstand klemmt's
Multinationale Rüstungsprojekte verlangen nach Höchstleistung – nicht nur technisch, sondern digital. Wer nicht interoperabel denkt, bleibt außen vor.
Marc Rivière, Global Industry Advisor Aerospace & Defense bei PTCMarc Rivière, Global Industry Advisor Aerospace & Defense beiPTC
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Europas technologische Souveränität entscheidet sich nicht nur bei den großen Systemhäusern – sondern vor allem in der Tiefe der Lieferkette. Der Maschinenbau kann mehr als nur Komponenten liefern: Mit der richtigen digitalen Infrastruktur wird er zum Rückgrat einer vernetzten Verteidigungsindustrie.(Bild: Mary - stock.adobe.com)
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Rüstung und Verteidigung: Ein neuer Markt mit alten Hürden
Mit der Entscheidung der NATO-Mitgliedsstaaten, die Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, ist der politische Wille zur Modernisierung klar formuliert. Damit eröffnen sich in der Verteidigungsindustrie neue Chancen für Unternehmen entlang der gesamten Lieferkette. Doch für viele mittelständische Maschinenbauer, insbesondere im TIER-Bereich, bleiben diese Möglichkeiten schwer zugänglich. Die technische Kompetenz, die Präzision und das Ingenieurwissen sind vorhanden, aber die digitale Anschlussfähigkeit fehlt oft. In einer Industrie, die zunehmend auf komplexe, vernetzte Systeme setzt, wird dies zum entscheidenden Engpass.
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Großprojekte wie das Future Combat Air System (FCAS) oder das Main Ground Combat System (MGCS) setzen neue Maßstäbe. Sie beruhen nicht mehr auf der Entwicklung einzelner Plattformen, sondern auf einem „System-of-Systems“-Ansatz, der Luft-, Land- und Seeplattformen, unbemannte Systeme, Sensoren und Kommunikationsnetze zu einem integrierten Ganzen verbindet. Diese Vernetzung erfordert nicht nur politische Abstimmung zwischen den Partnernationen, sondern vor allem eine technische Infrastruktur, die von Anfang an auf Interoperabilität ausgelegt ist.
(Bild: PTC)
Über den Auto: Marc Rivière ist Global Industry Advisor Aerospace & Defense bei PTC und unterstützt internationale Technologieunternehmen bei der digitalen Transformation. Er verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Luft- und Raumfahrt, darunter 22 Jahre bei der französischen Luftwaffe.
Markt- und Rahmenbedingungen für den Einstieg in die Verteidigungstechnik
Deutschland verfügt über eine starke Basis im Maschinenbau, die von hochpräziser Fertigung über Sondermaterialien bis hin zu hochspezialisierten mechatronischen Baugruppen reicht. Viele dieser Kompetenzen sind für Verteidigungsprojekte unverzichtbar. Gleichzeitig ist der Verteidigungsmarkt stark reguliert und von langen Projektlaufzeiten geprägt. Wer sich hier beteiligen will, muss nicht nur technologische Spitzenleistung erbringen, sondern auch die formalen und digitalen Anforderungen der Auftraggeber erfüllen.
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Mit dem steigenden Anteil digitaler Systeme in der Verteidigungstechnik verändert sich auch die Art der Zusammenarbeit. Anstelle isolierter Entwicklungsprozesse, in denen jede Partei ihre Arbeit bis zur Übergabe in abgeschlossenen Umgebungen erledigt, rücken gemeinsame, modellbasierte Entwicklungsumgebungen in den Mittelpunkt. In diesen Umgebungen werden nicht nur Konstruktionen erstellt, sondern auch Funktionalitäten, Schnittstellen und Betriebsbedingungen in Echtzeit simuliert und validiert. Für Unternehmen, die aus einer traditionell dokumentbasierten Arbeitsweise kommen, bedeutet dieser Umstieg eine tiefgreifende Transformation.
(Bild: xadartstudio - stock.adobe.com)
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Viele mittelständische Maschinenbauer arbeiten mit IT- und Produktionssystemen, die historisch gewachsen sind und kaum über standardisierte Schnittstellen verfügen. Zeichnungen und Konstruktionsdaten liegen in proprietären Formaten vor, Produktionsdaten sind in eigenständigen Systemen gespeichert, die nicht ohne weiteres an die Systeme internationaler Partner angebunden werden können. Diese Fragmentierung macht es schwer, die in Verteidigungsprojekten geforderte lückenlose Rückverfolgbarkeit von Baugruppen, Softwareversionen und Konfigurationen zu gewährleisten. Zudem fehlen oft Erfahrungen mit NATO-STANAG-konformen Schnittstellen oder modellbasierten Systementwicklungen. In der Folge können kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) ihre Produkte nicht ohne erheblichen Mehraufwand in multinationale Projekte integrieren.
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Selbst wenn die technische Lösung auf höchstem Niveau ist, wird sie ohne standardisierte digitale Anbindung im Wettbewerb oft nicht berücksichtigt. Ein weiteres Hindernis ist die Zertifizierung. Militärische Systeme unterliegen strengen Prüf- und Freigabeprozessen. Unternehmen müssen nachweisen, dass jede technische Änderung dokumentiert, geprüft und freigegeben wurde. Ohne ein durchgängiges digitales Konfigurationsmanagement ist dieser Nachweis kaum zu erbringen.
Herausforderungen am Beispiel FCAS im Vergleich mit GCAP
Diese Herausforderungen lassen sich im Umfeld des FCAS besonders deutlich beobachten. Das Programm, getragen von Frankreich, Deutschland und Spanien, verfolgt einen ambitionierten System-of-Systems-Ansatz, der eine enge Verzahnung von bemannten und unbemannten Plattformen, Sensoren, Waffensystemen und digitalen Führungsnetzen erfordert. Für KMU bedeutet das, ihre Produkte von Beginn an so zu entwickeln, dass sie sich in hochstandardisierte, cloudbasierte Entwicklungs- und Simulationsumgebungen einfügen. Erforderlich sind nicht nur NATO-STANAG-konforme Schnittstellen, sondern auch standardisierte Austauschformate wie STEP AP242 für CAD-Daten, ReqIF für Anforderungen oder FMI/FMU für Simulationen. Fehlen diese Voraussetzungen, erfolgt die Einbindung oft erst spät im Projektverlauf – mit entsprechend höherem Anpassungsaufwand und deutlich geringerem Einfluss auf die Festlegung künftiger Schnittstellenstandards.
Hinzu kommen die strengen Vorgaben für digitale Rückverfolgbarkeit und Compliance. Konstruktionen, Fertigungsparameter, Prüfergebnisse und Softwarestände müssen über den gesamten Lebenszyklus hinweg lückenlos versioniert und für alle beteiligten Nationen zugänglich sein. Für Unternehmen, die bisher mit isolierten IT-Systemen arbeiten, ist das eine tiefgreifende Umstellung, die Investitionen in kompatible PLM-, CAD- und Anforderungsmanagementsysteme erfordert.
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Ein Vergleich mit dem Global Combat Air Programme (GCAP) zwischen Großbritannien, Italien und Japan verdeutlicht, dass die Ausgangsbedingungen unterschiedlich gestaltet werden können. Dort ist die industrielle Zusammenarbeit von Beginn an klar strukturiert, technische Standards werden gemeinsam definiert, und Partner – auch aus dem Mittelstand – können frühzeitig auf Augenhöhe in die Architektur eingebunden werden. Diese gleichberechtigtere Governance erleichtert es, digitale Schnittstellen zu harmonisieren, senkt die Eintrittshürden und schafft mehr Spielraum für KMU, um gestaltend mitzuwirken. Für FCAS bedeutet das im Umkehrschluss: Ohne eine gezielte Öffnung und Standardisierung in der frühen Projektphase droht wertvolles mittelständisches Potenzial ungenutzt zu bleiben.
Digitale Reife zeigt sich nicht allein in Tools, sondern in der Fähigkeit, bereits vor Projektstart die technischen, organisatorischen und semantischen Grundlagen für eine nahtlose Integration zu legen. Dazu gehört eine systematische Architekturplanung, die Produktfunktionen, Datenflüsse und Schnittstellen nicht als nachträgliche Ergänzung behandelt, sondern als integralen Bestandteil des Entwurfsprozesses versteht. Auch die Entwicklungsteams selbst müssen so aufgestellt sein, dass Systemarchitekten, Konstrukteure und Softwareentwickler gemeinsam an konsistenten, modellbasierten Strukturen arbeiten können. Nur so lassen sich Änderungen, Varianten und Erweiterungen mit vertretbarem Aufwand in die komplexen IT-Landschaften multinationaler Programme wie FCAS oder GCAP integrieren – und das oft schon in frühen Phasen, in denen digitale Einflussnahme über spätere Anforderungen entscheidet.
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Zentral ist der Übergang von dokumentbasierten zu modellbasierten Arbeitsweisen. In modellbasierten Systemarchitekturen (MBSE) werden Anforderungen, Funktionen, Schnittstellen und physische Strukturen in einer durchgängigen, maschinenlesbaren Modellstruktur abgebildet. Das Verhalten einzelner Baugruppen wird so definiert, dass es in System-of-Systems-Simulationen automatisiert geprüft werden kann. Änderungen am Modell lösen unmittelbar Abhängigkeitsanalysen und Integrationsprüfungen aus, sodass Schnittstellenprobleme erkannt werden, bevor sie teure Verzögerungen verursachen.
Ebenso wichtig ist der Aufbau einer lückenlosen digitalen Rückverfolgbarkeit über den gesamten Lebenszyklus. CAD-Modelle, Stücklisten, Fertigungsanweisungen, Prüfergebnisse und Softwarestände müssen in versionierten, zugangsgeschützten Repositories abgelegt werden. Eine revisionssichere Verwaltung mit eindeutigen Identifikatoren – etwa UUIDs oder Part Numbers – ermöglicht es, jede Komponente eindeutig einem Konfigurationsstand zuzuordnen. Schnittstellen zu Konfigurationsmanagementsystemen nach CMII-Standard oder zu NATO-konformen PLM-Instanzen stellen sicher, dass alle Partner jederzeit auf denselben Datenstand zugreifen können. Diese technische Disziplin verkürzt nicht nur Entwicklungs- und Integrationszeiten, sondern ist in vielen militärischen Beschaffungsprojekten eine Grundvoraussetzung für die Teilnahme an den strategisch entscheidenden Phasen.
In einer sicherheitspolitisch angespannten Lage, in der sich Bedrohungen innerhalb weniger Monate ändern können, ist Geschwindigkeit nicht nur ein Wettbewerbsvorteil, sondern eine Grundvoraussetzung für die Teilnahme an Verteidigungsprogrammen. Für mittelständische Unternehmen bedeutet das, Entwicklungs-, Produktions- und Testprozesse so zu verzahnen, dass neue oder geänderte Komponenten in kürzester Zeit einsatzbereit sind.
Das beginnt bei einer Produktionsumgebung, die direkt aus den Konstruktions- und Simulationsdaten im PLM-System gesteuert wird. Änderungen an einem CAD-Modell oder einer Baugruppen-Spezifikation müssen automatisch in Fertigungsanweisungen, NC-Programme oder Stücklisten übernommen werden. Für Softwarekomponenten bedeutet das, Continuous-Integration- und Continuous-Deployment-Pipelines (CI/CD) einzurichten, mit denen Funktionsupdates oder sicherheitsrelevante Patches nach erfolgreicher Simulation und Testautomatisierung unmittelbar ausgerollt werden können – auch auf Komponenten, die sich bereits im Feld befinden.
Modular aufgebaute Produkte und klar definierte Schnittstellen erleichtern den Austausch einzelner Baugruppen, ohne dass das Gesamtsystem neu zertifiziert werden muss. Durch virtuelle Inbetriebnahmen und Hardware-in-the-Loop-Tests können Änderungen an Mechanik, Elektronik oder Software unter realistischen Einsatzbedingungen validiert werden, bevor sie physisch integriert werden. Für KMU, die oft nur über begrenzte Testkapazitäten verfügen, ist der Zugang zu gemeinsamen Simulations- und Prüfzentren ein entscheidender Faktor, um Zertifizierungen deutlich zu beschleunigen und den Markteintritt in laufende Programme zu schaffen.
Der deutsche Maschinenbau kann in multinationalen Verteidigungsprogrammen weit mehr leisten als die Lieferung einzelner Komponenten. Wer den Schritt vom klassischen Zulieferer zum vollwertigen Systempartner schaffen will, muss gezielt in digitale Interoperabilität investieren und sich aktiv in internationale Entwicklungs- und Testnetzwerke einbringen. Entscheidend ist, die eigene Produktentwicklung so aufzustellen, dass sie von Anfang an mit den PLM-, MBSE- und Simulationsumgebungen der Hauptauftraggeber kompatibel ist.
Für mittelständische Unternehmen bedeutet das, konkrete Schritte einzuleiten: Produkt- und Schnittstellendaten sollten in standardisierten, maschinenlesbaren Formaten bereitgestellt werden, um ohne Konvertierung in übergeordnete Systemarchitekturen integriert werden zu können. Die Teilnahme an virtuellen Integrations- und Zertifizierungsprozessen muss organisatorisch und technisch ermöglicht werden, beispielsweise durch den Einsatz von Cloud-PLM-Systemen und gemeinsamen Modell-Repositories. Partnerschaften mit großen Systemintegratoren oder die Mitwirkung in europäischen Förderprojekten wie dem European Defence Fund (EDF) bieten die Chance, frühzeitig in die digitale Architektur neuer Plattformen eingebunden zu werden. Ebenso wichtig ist der Zugang zu Test- und Validierungseinrichtungen, um Änderungen an Baugruppen, Software oder Elektronik unter realistischen Bedingungen schnell freigeben zu können.
Europas technologische Souveränität wird nur gelingen, wenn der Mittelstand digital und strukturell eingebunden wird. Wer jetzt in durchgängige digitale Prozesse investiert, legt den Grundstein für langfristige Wettbewerbsfähigkeit und sichert sich einen Platz als Partner auf Augenhöhe in einer vernetzten, zukunftsfähigen Verteidigungsindustrie.
FAQ – Digitale Rüstungsfähigkeit im Maschinenbau
Was bedeutet „System-of-Systems“ in Rüstungsprojekten? Darunter versteht man die Integration verschiedener Plattformen – Luft, Land, See – sowie Sensorik, Kommunikation und Software zu einem einheitlich steuerbaren Gesamtsystem.
Warum tun sich KMU schwer mit dem Einstieg in Projekte wie FCAS? Fehlende digitale Standards, proprietäre IT-Systeme und mangelnde Erfahrung mit NATO-konformen Schnittstellen verhindern eine frühzeitige Einbindung.
Welche Formate und Tools sind Voraussetzung für die Integration? Wichtige Standards sind STEP AP242 (CAD), ReqIF (Anforderungen), FMI/FMU (Simulation). Tools aus dem Bereich PLM, MBSE und CMII-konformes Konfigurationsmanagement sind essenziell.
Was unterscheidet GCAP von FCAS hinsichtlich Mittelstandsbeteiligung? GCAP setzt von Beginn an auf klare Governance und gleichberechtigte Partnerintegration – dadurch sinken Eintrittshürden für KMU erheblich.
Was ist MBSE und warum ist es so wichtig? MBSE (Model-Based Systems Engineering) ersetzt dokumentbasierte Entwicklung durch digitale Modelle. Es schafft Transparenz, Konsistenz und ermöglicht automatisierte Tests.
Wie kann Geschwindigkeit durch Digitalisierung erhöht werden? Durch Continuous Deployment, virtuelle Tests und automatische Ableitung von Produktionsdaten aus dem Konstruktionsmodell können Änderungen schneller umgesetzt werden.
Welche Rolle spielen gemeinsame Test- und Simulationszentren? Sie ermöglichen KMU den Zugang zu professioneller Validierung – ein entscheidender Faktor für Zertifizierung und Projektzulassung.
Wie gelingt der Wandel vom Zulieferer zum Systempartner? Nur wer in digitale Interoperabilität investiert, standardisierte Daten liefert und frühzeitig in Architekturprozesse einsteigt, kann strategisch mitgestalten.