"Die voranschreitende Digitalisierung, volatilere Märkte und kürzere Produktlebenszyklen erfordern von uns noch mehr Flexibilität als bislang", sagt die Trumpf-Chefin Nicola Leibinger-Kammüller. Das familiengeführte Hochtechnologieunternehmen hat gerade ein neues Arbeitszeitmodell vorgestellt, das den Einsatz von Mitarbeitern agiler machen soll. Vorgesehen ist ein Jahresarbeitszeitkonto mit einer Flexibilität von plus 200 bis minus 100 Stunden.
Gerhard Rübling, der Geschäftsführer und Arbeitsdirektor von Trumpf, erklärt dazu: "Unser neues agiles Zeitsystem soll es dem Unternehmen ermöglichen, auf unterschiedliche Kapazitätsauslastungen zu reagieren und kurzfristige Anpassungen vorzunehmen. Es bedeutet mehr Flexibilität für die Mitarbeiter und das Unternehmen." Aufgrund der zunehmenden Digitalisierung komme es zu immer stärkeren Auftragsschwankungen und kleineren Losgrößen sowie verkürzten Entwicklungszyklen.
Warum das so ist, weiß Professor Günther Schuh, der geschäftsführende Direktor des Werkzeugmaschinenlabors WZL der RWTH Aachen und Direktor des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnologie IPT: "Die zunehmende Digitalisierung von Prozessen und Vernetzung von technischen Systemen in Echtzeit ermöglicht es Unternehmen, schneller, fehlerfreier und vor allem kundenorientierter als bisher zu agieren."
"Drastisch verkürzte Produktentwicklungszyklen"
Während in der Vergangenheit Entwicklungsprozesse häufig nach dem sogenannten Stage-Gate-Prozess realisiert worden seien, also charakterisiert durch eine längere Phase der Lastenhefterstellung und ohne größere Kundeneinbindung, zeichne sich nun der Trend der hochiterativen Produktentwicklung ab, ähnlich wie es mit Scrum durch die Softwarebranche vorgelebt werde.
"Unternehmen können dadurch wesentlich schneller Prototypen testen, Kundenfeedback einholen und Erkenntnisse über die Produzierbarkeit gewinnen. Es zeichnen sich drastisch verkürzte Produktentwicklungszyklen ab, das Unternehmen wird durch die Vernetzung der Akteure und der einzelnen Systeme agiler", erläutert Schuh.
Damit sei die Anforderung nach einer Arbeitszeitflexibilisierung weniger eine Konsequenz der Digitalisierung, sondern vielmehr eine Konsequenz der gestiegenen Marktbedürfnisse.
So geht flexible Arbeitszeit mit nur 25 Mitarbeitern
Wie sich kleine Unternehmen durch Arbeitszeitflexibilisierung an gestiegene Marktschwankungen anpassen können, zeigt die 25 Mitarbeiter starke Trefz GmbH. Der Hersteller von Präzisionsteilen hat ein flexibles Arbeitszeitmodell eingeführt, das die privaten Belange der Mitarbeiter berücksichtigt und gleichzeitig den betrieblichen Anforderungen gerecht wird.
Dazu wurde die "Funktionszeit" eingeführt, in der sich die Belegschaft eigenverantwortlich selbst organisiert. Nicht Schichtpläne, sondern Liefertermine und effiziente Maschinenlaufzeiten entscheiden dabei über die Anwesenheit der Mitarbeiter.
"Als reiner Lohnfertiger unterliegen wir noch größeren Schwankungen als unsere Kunden. Umsatzschwankungen von einem Jahr zum anderen von 30 Prozent sind keine Seltenheit", erklärt Firmenchef Uwe Trefz. Durch die Neuregelung der Arbeitszeit würden die Mitarbeiter viel besser eingesetzt. "Die Leute gehen darauf ein. Hier hat sich zu meiner Überraschung eine sehr positive Eigendynamik entwickelt", ergänzt Trefz.
Insgesamt zeigt sich laut Trefz seit Einführung des Modells ein Anstieg der Produktivität und der Qualität: Durch die von nun an vorrangig durch Freizeit ausgeglichen Überstunden entfällt die zusätzliche finanzielle Vergütung. Der verbesserte Einsatz der Mitarbeiter je nach Kompetenz zeigt eine Qualitätsverbesserung, insbesondere durch die Vermeidung von Fehlern. Das neue Arbeitszeitmodell bringe somit einen wirtschaftlichen Vorteil für das Unternehmen, aber auch eine Verbesserung in der Flexibilität für die Mitarbeiter.
Das bedeutet Funktionszeit:
Das Funktionszeitmodell ist eine Variante des Gleitzeitmodells und wird auch als "variable Arbeitszeit" oder als "zeitautonome Arbeitsgruppe" bezeichnet. Es sieht keine verpflichtenden Anwesenheitszeiten (Kernzeit) mehr für jeden einzelnen Mitarbeiter vor, sondern definiert betrieblich vereinbarte Funktionszeiten, zu denen die einzelnen Betriebsbereiche funktionsfähig sein müssen.
Abgesehen von dieser Vorgabe regelt die Arbeitsgruppe bzw. das Team Dauer und Lage der Arbeitszeit ebenso autonom wie z.B. Urlaub oder Anwesenheitszeiten an bestimmten Tagen etc.. Das Funktionszeitmodell ermöglicht in Absprache auch ganze freie Tage, da im Mittelpunkt weniger die Anwesenheitszeit des einzelnen Mitarbeiters als vielmehr das Arbeitsergebnis des Teams steht. Solange das in Abstimmung mit den Vorgesetzten erreicht wird, haben die Beschäftigten innerhalb des Tarifund Arbeitszeitrechts die Möglichkeit, alles zu vereinbaren, worauf sie sich einigen können.
Kundenabrufe werden immer kurzfristiger
Ganz ähnliche Beobachtungen macht Ufuk Altun vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (IFAA): "Viele Gespräche mit Führungskräften bestätigen uns, dass im Zuge der Digitalisierung und Industrie 4.0 die Kundenabrufe immer kurzfristiger werden. Die Abrufe kommen nicht mehr quartalsmäßig, sondern verstärkt wöchentlich und sogar täglich. Da ist die Flexibilität in vollem Gange. Die Unternehmen müssen auf diese Kundenflexibilität reagieren und die Arbeitszeiten an die Auftragsschwankungen anpassen."
Für den Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) ist ein flexibles Jahresarbeitszeitkonto, wie das von Trumpf, dementsprechend kein Sonderfall: "Es gibt sogar Unternehmen, die bis zu 400 Stunden ins Plus und 200 Stunden ins Minus gehen", merkt Andrea Veerkamp-Walz vom VDMA-Fachbereich Betriebswirtschaft an.
Zu den schon immer stark ausgeprägten Konjunkturzyklen im Maschinenbau komme die Digitalisierung nun noch dazu. "Dass die digitalen Produkte kürzere Lebenszyklen haben, liegt schon nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf der Hand. Kleinere Losgrößen sind durch moderne Fertigung in verstärktem Maße möglich, also kann das Unternehmen noch stärker mit den Aufträgen atmen", erklärt die VDMA-Expertin.
Marktschwankungen nehmen zu
Für Martin Röll, Geschäftsführer der IG Metall Stuttgart, ist die zunehmende Flexibilisierung der Arbeit und die Einführung von Jahresarbeitszeitkonten ebenfalls nichts Neues: "Gerade in Baden-Württemberg ist das keine Seltenheit, hier haben wir in fast allen Betrieben verschiedene Arbeitszeitkonten." Allerdings hat die Flexibilisierung aus Sicht von Röll wenig mit Industrie 4.0 zu tun: "Vielmehr ändern sich die Kundenanforderungen schneller als früher, was zu stärkeren Marktschwankungen führt", meint der IG Metall-Experte.