Es sind die frühen Morgenstunden des 11. August 1928. Der gerade einmal 22 Jahre alte Friedrich Karl Freiherr Koenig von und zu Warthausen hebt zum Rekordflug von Berlin-Tempelhof nach Moskau ab. Sein Klemm-Daimler-Leichtflugzeug L 20 hat er „Kamerad“ getauft.
„Zweimal kreiste ich noch um den Platz, um Abschied zu nehmen und gleichzeitig gegen den starken Wind in die Höhe zu kommen. Nachdem ich zweihundert Meter gestiegen war, schoss ich als letztes Lebewohl für die Freunde aus der Leuchtpistole eine grüne Kugel in den pechschwarzen Himmel. Dann auf und davon!“, so erinnert sich Koenig-Warthausen später in seinem Buch „Mit 20 PS und Leuchtpistole“. Wenige Tage nur will der Pilot aus Berlin fortbleiben. Am Ende werden es mehr als 15 Monate sein.
Über das Lichtermeer Berlins Richtung Polen
Durch die Nacht geht es zunächst über das Lichtermeer Berlins nach Polen. In der Sonne des frühen Morgens taucht Danzig auf.
Die Grenze zur Sowjetunion überquert Koenig-Warthausen wie vorgesehen „ zwischen den Dörfern Bigosowo und Balbino bei Dünaburg“. Die Anstrengungen des langen Flugs nehmen zu, aber der Pilot hält sich den Rekordversuch vor Augen: „In diesen drückenden Mittagsstunden rief ich mir immer wieder das Ziel meines Fluges ins Gedächtnis. Ich musste nach Moskau! Wenn ich ohne Unterbrechung dorthin gelangte, so war das ein Weltrekord. Noch nie war jemand mit einem Leichtmotor eine solche Strecke geflogen. Wenn ich nach Moskau gelangte, so konnte es weiterhin sein, daß ich mit meinem Flug den Hindenburgpreis gewann, der für die beste deutsche Amateurleistung mit Sportflugzeugen ausgesetzt worden war. Hindenburgflieger, das wollte ich unbedingt werden.“
Tollkühne Flugpioniere
Sehnsucht Fliegerei
Dieser 1928 erstmals von Reichspräsident Paul von Hindenburg gestiftete „Hindenburg-Pokal“ ist mit 10.000 Reichsmark dotiert. Damit wären die Kosten für den Kauf der L 20 gedeckt, welche die Eltern des Fliegers vorfinanziert haben: 7.250 Reichsmark lautet im Jahr 1928 der Preis für den von der Leichtflugzeugbau Klemm GmbH in Sindelfingen als „Flugzeug für Schule, Reise, Sport“ beworbenen Eindeckers.
Die Maschine, angetrieben vom 15 kW (20 PS) starken Mercedes-Benz Flugmotor F 7502, weckt Sehnsüchte in einer Epoche, die von der Begeisterung der Transkontinentalflüge Charles Lindberghs und seiner Nachfolger getragen wird. Mit der Überschrift „Ein Volksflugzeug“ berichtet die „Berliner Zeitung“ am 12. Februar 1928 über die Entwicklung des Luftfahrtpioniers Hanns Klemm.
Leichtflugzeuge wie die L 20 mit ihren robusten und zuverlässigen Mercedes-Benz Motoren gelten als Schlüssel für eine künftige Demokratisierung der Luftfahrt – ähnlich wie es damals beim Automobil gerade geschieht.
Der Rekordversuch des Freiherrn von Koenig-Warthausen verläuft zunächst nach Plan. Am Nachmittag des 12. August 1928 verschlechtert sich allerdings das Wetter. Durch Wolken und Regenschleier jagt er über den Eisenbahnschienen nach Moskau.
20 Minuten vor der russischen Hauptstadt wird die Sicht schließlich so schlecht, dass er die L 20 in einem Feld landen muss. Vom Bürgermeister des nahen Dorfs erfährt der Pilot, dass er sein Ziel fast erreicht hat.
„In sechzehn Stunden hatte ich eintausendsiebenhundert Kilometer zurückgelegt“, freut sich Koenig-Warthausen in seinen Aufzeichnungen. „Durch meinen Flug war der bisherige Streckenweltrekord für Leichtflugzeuge, den zwei Franzosen innehatten, weit überboten.“
Mit 20 PS um die Welt
Anerkannt wird der Rekord aber aus formalen Gründen nicht: Den wegen des Grenzverlaufs zur Sowjetunion notwendigen Umweg erkennen die Juroren nicht als Teil der Flugstrecke an. Und ob die Leistung für den Hindenburg-Pokal ausreichen wird? Schließlich planen zur gleichen Zeit auch andere junge Flieger ähnliche Vorhaben mit Leichtflugzeugen.
So fasst der Freiherr binnen weniger Tage den zweiten Spontanentschluss: Nach den vorzüglichen Erfahrungen mit seinem „ Kamerad“ startet er zu einer Weltumrundung. Die Vorbereitungen sind übersichtlich: 500 Reichsmark senden die Eltern, die L 20 erhält einen neuen Propeller mit dünnem Beschlag aus Messingblech als Wetterschutz, und der Pilot investiert in „gutes Handwerkszeug für etwaige Reparaturen, ein Ersatzrad und Munition für die Leuchtpistole [...]. Dann besorgte ich mir Landkarten von Südrussland …“.
So nimmt eines der größten Abenteuer in der Geschichte der Leichtflugzeuge von Hanns Klemm an Fahrt auf. Der Flugpionier Klemm wird 1885 – ein Jahr vor der Erfindung des Automobils durch Carl Benz – in Stuttgart geboren und studiert nach dem Abitur an der Technischen Hochschule seiner Heimatstadt Bauingenieurwesen.
Vom Brücken- und Hochbau wechselt er bald zur Luftfahrt: Noch im Ersten Weltkrieg wird er Leiter des Versuchsbaus bei der Abteilung Dornier des Luftschiffbaus Zeppelin in Friedrichshafen. Es folgt eine Station bei Heinkel.
Im Flieger über Sindelfingen
Vom Abenteurer zum Chefkonstrukteur
Im April 1918 schließlich wird Klemm Chefkonstrukteur des Flugzeugbaus der damaligen Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG). In dieser Zeit entstehen bereits erste eigene Konstruktionen wie die Jagd- und Aufklärungsflugzeuge Daimler L 11 und L 14.
Diese Entwürfe gehen aber nicht mehr in Produktion. Denn im Versailler Vertrag des Jahres 1919 wird Deutschland untersagt, Flugzeuge und deren Teile zu bauen oder zu importieren. Klemm übernimmt daher die Aufgabe des Technischen Direktors im Daimler-Werk Sindelfingen.
Doch der Ingenieur arbeitet weiter an seinem Traum eines „ Flugzeugs für jedermann“. Den Anfang macht die Daimler L 15 im Jahr 1919. Den Durchbruch bringt schließlich das Leichtflugzeug L 20.
Video: Unterwegs im Lufttaxi - Flug im Volocopter
Berühmte Piloten am Steuerknüppel
Klemm wagt den Schritt in die Selbstständigkeit, nachdem die Daimler-Benz AG sich auf den Fahrzeugbau konzentriert und die Flugzeugfertigung einstellt. Sein Unternehmen siedelt sich 1926 am Standort Sindelfingen an. Der damalige Landesflughafen Stuttgart-Böblingen liegt in direkter Nachbarschaft.
In einer 1929 erschienenen Broschüre erklärt das Unternehmen die Positionierung seiner Produkte im zeitgenössischen Flugzeugmarkt wie folgt: „Es gibt wohl vorzügliche Flugzeuge für militärische Verwendung, wir haben solche für Kunstflüge und Wettrennen, wir haben Luftomnibusse und Luftexpresse höchster Leistung – der Allgemeinheit aber fehlte bisher das einfache, billige, leicht zu fliegende und zu behandelnde individuelle Luftverkehrsmittel.“
Diese Lücke will Klemm mit der L 20 schließen, die ausgestattet ist mit dem „ hierzu passende[n] 20 PS Leichtflugmotor von Dr. Ing. Ferdinand Porsche, Direktor und Chefkonstrukteur der Daimler-Motoren-Gesellschaft.“ Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist Porsche allerdings schon aus der 1926 durch die Fusion der DMG mit Benz & Cie. entstandenen Daimler-Benz AG ausgeschieden. Zu den Piloten, die mit Klemm-Flugzeugen starten, gehören auch Berühmtheiten wie Ernst Udet und Elly Beinhorn, die spätere Frau des Auto-Union-Rennfahrers Bernd Rosemeyer.
Das Elektro-Lufttaxi von Lilium
Hoch auf bis zu 6.700 Metern
Der 48 Kilogramm leichte, luftgekühlte Flugmotor F 7502 mit zwei einander horizontal gegenüberliegenden Zylindern hat 884 Kubikzentimeter Hubraum (75 Millimeter Bohrung × 100 Millimeter Hub) und leistet 15 kW (20 PS) bei 3.000 U/min. Der Propeller wird in der L 20 über ein dreistufiges Untersetzungsgetriebe auf eine Drehzahl von 1.000 U/min gebracht.
Der Motor steht in einer langen und erfolgreichen Tradition von Flugmotoren der Daimler-Benz AG und ihrer Ursprungsunternehmen. Sie werden seit dem ersten Motorflug des Luftschiffs von Dr. Friedrich Hermann Wölfert am 10. August 1888 kontinuierlich weiterentwickelt.
Damals vor 130 Jahren treibt ein 1,8 kW (2,5 PS) starker Daimler-Einzylindermotor den Lenkballon Wölferts an. Die großen Mercedes-Benz V12-Flugmotoren in den späten 1930er-Jahren erreichen Leistungen von fast 2.059 kW (2.800 PS).
Für das Klemm-Daimler-Leichtflugzeug erweist sich der F 7502 als die optimale Motorisierung. Mit ihm erreicht die L 20 bis 125 km/h im Horizontalflug, steigt ohne Passagier in acht Minuten auf 1.000 Meter Höhe und kann (ebenfalls ohne Passagier) eine Gipfelhöhe von 6.700 Meter erreichen.
Wichtig für Einsätze wie die Weltumrundung des Freiherrn ist ihre außergewöhnlich hohe Flexibilität: In nur acht Minuten lässt sich der 7,30 Meter lange Eindecker mit 13 Meter Spannweite auf ein Transportmaß von 6,50 × 1,50 × 2,20 Meter zusammenklappen.
Dann kann das Flugzeug „in einer Feldscheune oder Garage untergebracht oder an einen kleinen Wagen angehängt zum nächsten Ort gebracht werden“, heißt es dazu in der Werbebroschüre. Beim Landen abseits befestigter Pisten überzeugt die Maschine durch ihren niedrigen Schwerpunkt von nur einem Meter über dem Boden und das feste Fahrwerk ohne durchgehende Achse.
Über den Kaukasus hinweg
Friedrich Karl von Koenig-Warthausen startet mit seiner L 20 von Moskau aus in Richtung Orient. Er erlebt Flugplätze ohne Hallen und Schuppen, fliegt über alte Festungsstädte und die Weiten des Kaukasus, über Kamelkarawanen und riesige Ölfelder mit einem ganzen Wald aus Bohrtürmen.
Bei einem Stopp in Baku plant der Freiherr schließlich, weiter in „die Märchenstadt Teheran“ in Persien zu fliegen. Er lernt bei seinen Aufenthalten die Menschen in diesen weit entfernten Ländern kennen. Und fast überall findet der junge deutsche Flieger eine herzliche Aufnahme und Unterstützung.
Die französischsprachige persische Zeitung „Bote von Teheran“ nennt von Koenig-Warthausen höchst poetisch „einen leuchtenden Stern, der vom Himmel wie ein Komet niederging“. Wichtiger für den Piloten dürfte sein, dass er mit dem Flug bis Teheran den Hindenburg-Pokal 1928 gewonnen hat – sein persönliches Ziel ist erreicht.
Nach Hause über Ozeane und Kontinente
Der weitere Flug nach Hause führt von Koenig-Warthausen quer durch Asien. Märchenhafte Ortsnamen sammeln sich im säuberlich geführten und wo immer möglich von offizieller Stelle gestempelten Bordbuch der L 20, in das der Pilot jeden Start einträgt: Unter anderem sind da Isfahan, Karatschi, Jodhpur und Agra zu lesen, schließlich Bangkok und Singapur.
Mit dem Schiff geht es nach Japan und nach wenigen Flugetappen von dort weiter nach Nordamerika. Hier durchquert die L 20 die Vereinigten Staaten von San Francisco nach New York, mit einem Abstecher nach Kanada.
Der deutsche Pilot wird immer wieder für seine Leistung gefeiert. So schreibt der „Tucson Star“ am 9. Juli 1929 unter der Überschrift „Cycle Plane Brings Baron“ über die spektakuläre Weltumrundung.
Video: Hier hebt der Lilium-Jet ab
Viel Unterstützung entlang der Flugroute
Den zweiten Gewinn des „Hindenburg-Pokals“ in Folge verpasst von Koenig-Warthausen ganz knapp: Zwei Tage zu spät für eine erneute Auszeichnung kommt er am 3. November 1929 auf dem Flughafen Roosevelt Field in New York an. Doch den Triumph für diese außerordentliche Weltumrundung mit 15 kW (20 PS) kann ihm niemand nehmen.
Das Meisterstück gelingt gleichermaßen durch die Leistung des Piloten, durch die treue und zuverlässige L 20 und durch die Unterstützung der Menschen entlang der Flugroute. So schreibt auch die „Neue Zeitung Berlin“ am 20. November 1929: „Der Flug musste glücken, nicht nur, weil der Motor gut war, nicht nur, weil der junge Flieger überall im weitesten Ausland die sportliche Unterstützung fand, die ihm zum Teil die Heimat leider versagte […], nein: es saß ein ganzer Mann am Steuer seines Hünefeld, ein Mann der genau wusste, was er wollte und der mit einer Idee im Kopf und im Herzen flog.“
Die Bezeichnung „Hünefeld“ in dem Artikel bezieht sich auf den neuen Namen seiner L 20, den von Koenig-Warthausen nach seiner Ankunft in den USA zu Ehren des Rekordfliegers Ehrenfried Günther Freiherr von Hünefeld, Teilnehmer des ersten Ost-West-Flugs über den Nordatlantik im Jahr 1928, gewählt hat.
Video: Jetboard statt Stau
Die letzte Etappe der Weltumrundung
Nach der Schiffspassage startet von Koenig-Warthausen am 22. November 1929 in Bremerhaven zur letzten Etappe seiner Weltumrundung. Wegen schlechten Wetters beendet er den Flug allerdings in Bevensen mit einer Notlandung. „Ende des Fluges Berlin–Asien–U.S.A.–Berlin“ trägt der Baron am folgenden Tag ins Bordbuch ein. Das Klemm-Daimler-Leichtflugzeug L 20 wird in Bevensen wieder flugfähig gemacht und am 28. November 1929 ins Werk des Herstellers überführt.
Das Mercedes-Benz Museum in Stuttgart zeigt seit 1980 das Klemm-Daimler-Leichtflugzeug L 20 „Kamerad“ als Teil der Dauerausstellung. Weil das originale Flugzeug des Freiherrn von Koenig-Warthausen nicht erhalten ist, entsteht eigens für das Museum eine detaillierte Rekonstruktion auf Basis einer L 20.
Der Baron selbst stellt dafür zahlreiche Unterlagen aus dem privaten Archiv der Familie Koenig-Warthausen zur Verfügung. Heute gehört die L 20 zum „Mythosraum 3: Umbrüche – Diesel und Kompressor“ und schwebt dort über den Besuchern. Der Traum vom eigenen Flugzeug als Verkehrsmittel im Alltag bekommt durch Leistungen wie die Weltumrundung vor 90 Jahren mit dem Mercedes-Benz Flugmotor viel Aufschwung.
Bislang setzt sich diese Vision nicht durch. Aber das könnte sich in den kommenden Jahren ändern – zum Beispiel durch das Luftfahrt-Start-up Volocopter aus Bruchsal. Das Unternehmen will in wenigen Jahren autonome elektrische Lufttaxis (eVTOL) auf den Markt bringen. Die Daimler AG ist an Volocopter beteiligt.
Wollen wir nicht alle einmal fliegen?
Lufttaxis sind ohnehin gerade ein ganz großes Thema. Fast jeder zweite Deutsche (41 Prozent) würde gerne schon bald in ein Flugtaxi steigen oder mit einem autonomen Auto fahren. Insbesondere junge Menschen sind offen für Innovationen in der Mobilität. Das zeigt eine Umfrage im Auftrag der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“.
Insbesondere junge Menschen sind offen für Innovationen in der Mobilität. 65 Prozent der 18- bis 29-Jährigen wünschen sich Flugtaxis und unbemannte Drohnen für kurze Strecken und 60 Prozent autonom fahrende Autos.
Das Start-up Lilium hofft, von diesen Sehnsüchten zu profitieren. Einen ersten Prototypen hat das Unternehmen bereits getestet.
Laut Lilium-Geschäftsführer und Mitbegründer Daniel Wiegand ist es problemlos möglich, eine 100-spurige Luftstraße etwa von Stuttgart nach München zu definieren. Allerdings bräuchte es dafür Standards, die von Regulatoren festgelegt werden.
Aber ist es überhaupt möglich, solch ein senkrecht startendes Elektroflugzeug für den Massenverkehr zu bauen? Für Daniel Wiegand und seine Mitstreiter besteht kein Zweifel daran. „Ich selbst habe nie daran gezweifelt, dass es klappt“, sagt er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Ich orientiere mich an den physikalischen Limits dieser Welt. Wenn ich berechnen kann, dass es funktioniert, dann sollten wir das machen. Daran glaube ich und dem vertraue ich.“