Chefredakteurs-Interview

Systemdenken statt Maschinenbau-Denken

Ein Gespräch mit Prof. Dr.-Ing. Michael Zäh, Inhaber des Lehrstuhls für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik an der TU München, über den Paradigmenwechsel im Maschinenbau, digitale Wertschöpfung und die Rolle von Forschung und Lehre.

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Claus Wilk (re.) und Stefan Weinzierl (li.) sprechen mit Prof. Dr.-Ing. Michael Zäh, Inhaber des Lehrstuhls für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik an der TU München, über die großen Herausforderungen und Chancen im Maschinenbau.

Der Lehrstuhl für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der TU München hat Wurzeln im Jahr 1875, als Egbert von Hoyer den Lehrstuhl für Maschinenbaukunde übernahm. Heute ist er Teil des Instituts für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften und bearbeitet Themen wie Werkzeugmaschinen, additive Fertigung, Lasertechnik und Batterieproduktion. Der moderne Maschinenpark mit Laserquellen, Pulverbettanlagen und Robotern erlaubt laserbasiertes Fügen und additive Pulverbettverfahren. Studierende nutzen das Versuchsfeld in Forschungs‑ und Industrieprojekten. Seit 2002 leitet Prof. Dr.-Ing. Michael Zäh den Lehrstuhl; der 1963 geborene Maschinenbauer promovierte 1993 bei Joachim Milberg und war bis 2002 in leitender Industrieposition tätig.

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Maschinenbau am Wendepunkt

Das Chefredakteursduo Claus Wilk und Stefan Weinzierl traf Prof. Dr.-Ing. Michael Zäh in Garching bei München an der Technischen Universität, wo er den Lehrstuhl für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik leitet. Schon zu Beginn des Gesprächs macht Zäh deutlich, dass die Branche nicht vor einer bloßen Anpassungsphase steht, sondern vor einer grundlegenden Zäsur. Die klassischen Innovationszyklen, die sich auf schrittweise Optimierungen von Maschinen beschränken, reichen nach seiner Einschätzung nicht mehr aus.

„Wir müssen weg vom reinen Maschinenbau-Denken hin zu einer konsequenten Systemorientierung“, erklärt er. Das bedeutet: Hersteller sollten nicht nur einzelne Maschinen verbessern, sondern komplette Wertschöpfungsketten analysieren, neu strukturieren und mit digitaler Intelligenz vernetzen.

Vom Einzelaggregat zum vernetzten System

Zäh betont, dass der Maschinenbau heute integrativ denken muss. Die Grenzen zwischen klassischer Maschinenentwicklung, Softwaretechnik und Datenanalyse verschwimmen. Moderne Werkzeugmaschinen sind längst Teil komplexer, vernetzter Systeme, in denen Sensorik, Aktorik, Steuerungstechnik und datengetriebene Optimierungsprozesse ineinandergreifen.

Er beschreibt diesen Wandel als mehrschichtigen Prozess: Technologische Innovationen wie digitale Zwillinge, vernetzte Produktionssysteme und künstliche Intelligenz gehen Hand in Hand mit organisatorischen Veränderungen in den Unternehmen. Neue Geschäftsmodelle – von nutzungsbasierten Abrechnungen bis zu vorausschauenden Remote-Services – gewinnen an Bedeutung und verlangen von Maschinenbauern eine Erweiterung ihrer Kompetenzen.

Industrie 4.0 – vom Konzept zur Umsetzung

Für Zäh ist „Industrie 4.0“ längst aus der Konzeptphase heraus. An vielen Stellen wird sie bereits produktiv umgesetzt. Doch er mahnt: In der Breite sei die Umsetzung noch nicht konsequent genug. „Viele Unternehmen setzen digitale Werkzeuge ein, ohne die dahinterliegenden Potenziale voll auszuschöpfen“, sagt er.

Der internationale Wettbewerb verstärkt diesen Druck. Länder mit schnellerer Implementierungsgeschwindigkeit könnten sich entscheidende Vorsprünge sichern. Für deutsche Maschinenbauer bedeute das, nicht nur in Spitzentechnologien zu investieren, sondern auch eine Unternehmenskultur zu etablieren, die datenbasierte Entscheidungen und agile Prozesse fördert.

Forschung, Lehre und Praxis im Zusammenspiel

In seiner Rolle als Lehrstuhlinhaber sieht Zäh eine zentrale Aufgabe darin, Studierende für die veränderten Anforderungen des Maschinenbaus zu rüsten. „Wir müssen Ingenieure ausbilden, die das große Ganze im Blick haben und interdisziplinär denken können“, betont er.

Sein Lehrstuhl arbeitet in enger Kooperation mit der Industrie. Praxisprojekte, in denen Studierende gemeinsam mit Unternehmen an realen Fertigungsherausforderungen arbeiten, gehören zum Alltag. Ebenso wichtig ist der Zugang zu modernsten Produktionsanlagen und digitaler Infrastruktur, um zukunftsweisende Konzepte unmittelbar erproben zu können.

Mut zu radikalen Veränderungen

Zäh macht im Gespräch deutlich, dass der aktuelle Wandel nicht durch vorsichtige Anpassungen zu bewältigen ist. Es brauche unternehmerischen Mut, um eingefahrene Geschäfts- und Technologiemodelle zu hinterfragen – und gegebenenfalls radikal neu zu denken.

„Wer nur reagiert, verliert“, sagt er. Statt defensiv auf Marktveränderungen zu antworten, müsse die Branche selbst Impulse setzen. Diese Haltung erfordere strategische Weitsicht, Innovationsgeist und die Bereitschaft, auch in unsicheren Zeiten konsequent in Zukunftsfelder zu investieren.

📌 FAQ – Interview mit Prof. Dr.-Ing. Michael Zäh (TU München)

Wer ist Prof. Dr.-Ing. Michael Zäh?
Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik an der Technischen Universität München.

Worum geht es im Interview?
Um den tiefgreifenden Wandel im Maschinenbau – vom klassischen Maschinenbau-Denken hin zu einem systemorientierten Ansatz.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung?
Zentrale: Vernetzte Produktionssysteme, digitale Zwillinge und datengetriebene Geschäftsmodelle prägen die Zukunft.

Was versteht Zäh unter Systemdenken?
Das Betrachten kompletter Wertschöpfungsketten, nicht nur einzelner Maschinen – inklusive Software, Daten und Organisation.

Welche Bedeutung hat Forschung und Lehre?
Zäh betont die enge Verzahnung von Hochschule und Industrie, um Innovation schnell in die Praxis zu bringen.