Im Chefredakteurs-Interview mit Claus Wilk von mi-connect spricht der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, Prof. Dr.-Ing. Holger Hanselka, über die Chancen und Herausforderungen der Forschung für die deutsche Industrie.
Was steckt hinter dem Fraunhofer-Modell?
Die Fraunhofer-Gesellschaft gilt als Rückgrat der angewandten Forschung in Europa. Mit über 70 Instituten, einem Jahresbudget von rund 3,6 Milliarden Euro und einem Geschäftsmodell, das zu zwei Dritteln auf dem freien Markt funktioniert, agiert Fraunhofer in einem Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.
Was Fraunhofer vom globalen Standard unterscheidet, ist sein unternehmerischer Forschungsansatz: Jedes Projekt muss sich im Markt bewähren, Mitarbeitende müssen ihre Forschungsergebnisse in konkrete Anwendungen überführen. Diese Denkweise treibt den Technologietransfer in der Praxis voran – insbesondere für den Mittelstand.
Die deutsche Forschungslandschaft ist im Wandel – geprägt von geopolitischen Spannungen, rasantem Technologiewandel und einem zunehmenden Innovationsdruck auf die Industrie. Im exklusiven Gespräch mit Claus Wilk erläutert Prof. Dr.-Ing. Holger Hanselka, Präsident und Vorstandsvorsitzender der Fraunhofer-Gesellschaft, wie sich die größte europäische Organisation für angewandte Forschung positioniert, um industrielle Relevanz zu sichern und internationale Konkurrenzfähigkeit zu behaupten.
Transfer: Mehr als ein Modewort
„Der Begriff Transfer wird inflationär verwendet“, betont Prof. Hanselka gleich zu Beginn. „Aber was wirklich damit gemeint ist, bleibt oft vage.“ Die Fraunhofer-Gesellschaft differenziert den Transferprozess anhand eines Transferbarometers des Stifterverbands: Auftragsforschung, Lizenzen, Ausgründungen und der „Transfer über Köpfe“ sind nur einige der Wege, über die Wissen in die Praxis überführt wird.
Besonders relevant sei die klassische Auftragsforschung: „Die Wirtschaft hat ein Problem, artikuliert es – und wir liefern eine Lösung, die bezahlt wird.“ Dieses Modell steht im Zentrum des Fraunhofer-Ansatzes, denn mit nur einem Drittel Grundfinanzierung ist Fraunhofer strukturell gezwungen, zwei Drittel seiner Mittel im Markt zu erwirtschaften.
Zwischen Grundlagen und Anwendung: Die Balance der Finanzierung
Mit einem Haushaltsvolumen von 3,6 Milliarden Euro, davon etwa 850 Millionen Euro Grundfinanzierung, befindet sich die Fraunhofer-Gesellschaft in einem permanenten Spagat zwischen langfristiger Grundlagenforschung und kurzfristiger industrieller Anwendung. „Unsere Institute erhalten 60 Prozent dieser Basisfinanzierung direkt, 40 Prozent vergeben wir zentral über Wettbewerbe – idealerweise an institutsübergreifende Vorlaufforschung.“
Doch besonders EU-Projekte gestalten sich kostspielig: „Wir bekommen oft nur 50 Prozent finanziert, den Rest müssen wir selbst stemmen.“ Deshalb seien strategische Projektwahlen entscheidend – mit dem Ziel, Vorlaufforschung und Drittmittelakquise miteinander zu verschmelzen.
Global präsent, aber einzigartig im Modell
Internationalität ist für Fraunhofer Alltag. „30 Prozent unseres Industrieertrags stammen aus dem Ausland, davon das meiste aus den USA“, erklärt Hanselka. Auch europäische Kooperationen – etwa mit Frankreich, den Niederlanden oder Österreich – prägen die Projektlandschaft.
Trotzdem hebt sich das Fraunhofer-Modell deutlich von internationalen Forschungseinrichtungen ab: „In anderen Ländern wird eine Einrichtung vollfinanziert und darf Drittmittel einwerben – bei uns ist das Geschäftsmodell selbst der Innovationstreiber.“ Dieses unternehmerische Denken sei tief in der Kultur verankert: „Jede Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter muss den Willen haben, ihre Arbeit am Markt zu versilbern.“
Forschung mit strategischer Relevanz
Hanselka nennt zentrale Themenfelder, in denen Fraunhofer international gefragt ist: Elektromobilität und Batteriemanagementsysteme, Automatisierungstechnik im Maschinenbau, Materialforschung, Leichtbau und Kreislaufwirtschaft. „Wir bedienen gezielt Felder, in denen Bedarfe bestehen – etwa in den USA. Doch der Werkzeugmaschinenbau ist dort derzeit kein vorrangiges Thema.“
Anders in China. „China ist technologisch extrem leistungsfähig. Ihre Wissenschaft ist diszipliniert, strategisch ausgerichtet und ehrgeizig.“ Gleichzeitig warnt Hanselka vor einer zunehmenden Polarisierung zwischen den USA und China, die Europa in ein geopolitisches Dilemma drängt. Fraunhofer navigiert dieses Spannungsfeld durch „maximale Sensibilität“ und gezielten Schutz geistigen Eigentums.
KI, Digitalisierung und der Kampf um die Souveränität
Trotz des Vorsprungs großer US-Konzerne im Bereich generativer KI sieht Hanselka Potenzial für Europa: „Wir brauchen spezialisierte Modelle auf Fachdomänen – etwa für die Produktionstechnik oder den Werkzeugmaschinenbau.“ Gemeinsam mit dem Forschungszentrum Jülich hat Fraunhofer ein eigenes Sprachmodell entwickelt, das den europäischen AI-Act berücksichtigt und Open Source verfügbar ist.
Er sieht darin die Chance, die Phase der Plattformökonomie, die Deutschland verpasst habe, durch industrielle Datenräume und spezifische KI-Anwendungen im B2B-Bereich zu kompensieren: „Wir haben das Rüstzeug. Jetzt müssen wir es auch umsetzen.“
Bürokratieabbau und Mittelstand im Fokus
„Ja, auch wir leiden unter Bürokratisierungswahnsinn“, gibt Hanselka unumwunden zu. Dabei verweist er auf die Komplexität nationaler und europäischer Vorgaben und fordert größere Handlungsspielräume für Forschung und Industrie. Der Mittelstand sei für ihn der eigentliche Innovationsträger: „Unsere Hidden Champions müssen sich täglich neu erfinden. Das ist unser Tafelsilber – nicht allein die Start-ups.“
Start-ups sieht er als komplementären Baustein. „Wir müssen beides stärken, aber der Mittelstand ist unsere größte Innovationsmaschine.“
Rüstungsforschung: Verantwortung und Realismus
Auch bei wehrtechnischer Forschung ist Fraunhofer involviert – insbesondere mit zwölf Instituten, von denen sieben auch vom Verteidigungsministerium eine Grundfinanzierung erhalten.. „Wir tragen hier eine Verantwortung – technologisch wie ethisch.“ Gleichzeitig fordert Hanselka eine Versachlichung der Debatte um Dual Use: „Jede Technologie kann zivil wie militärisch genutzt werden. Wichtig ist, wie verantwortungsvoll wir damit umgehen.“
Fraunhofer bereitet sich strukturell auf größere Anforderungen vor – etwa durch verschlossene IT-Infrastrukturen oder sicherheitsgeprüftes Personal. „Die Industrie ist bereit. Was sie braucht, sind verlässliche politische Rahmenbedingungen.“
Chancen nutzen, statt klagen
Trotz aller Herausforderungen überwiegt bei Prof. Hanselka der Optimismus: „Wir haben weltweit einmalige Kompetenzen – im Maschinenbau, in der Produktionstechnik, in der KI. Was wir brauchen, ist Tempo, Unternehmergeist und weniger Verwaltungslast.“ In einer Welt, die zunehmend fragmentiert ist, sieht er Deutschland und Europa in der Pflicht, ihr industrielles Ökosystem zu bewahren – durch mutige Forschung und konsequenten Transfer.