Die Industrie scheint bereit für klimaneutral erzeugten Wasserstoff. Zumindest legt dies der H2-Marktindex 2024 nahe, der die Wahrnehmung im Markt bezüglich der Entwicklung eines Wasserstoffmarkts in Deutschland ermittelt. Danach schätzen drei Viertel (76 Prozent) der Marktakteure die Bedeutung für die zukünftige Energieversorgung in Deutschland als hoch bis sehr hoch ein. Zur Erhebung des H2-Marktindex 2024 wurden Stakeholdern der Wasserstoffwirtschaft befragt. Initiiert haben die vom Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität zu Köln gGmbH (EWI) durchgeführte Erhebung der Deutsche Verein des Gas- und Wasserfachs (DVGW), der Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI), der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. (VDMA) sowie die Wirtschaftsvereinigung Stahl (WV Stahl).
Transformationstempo des Wasserstoffhochlaufs soll erhöht werden
Auch angesichts dieser Bedürfnisse fordert Prof. Dr. Gerald Linke, das Transformationstempo des Wasserstoffhochlaufs aufrechtzuerhalten, wenn nicht sogar zu erhöhen. Zudem hält der DVGW-Vorstandsvorsitzende weitere regulatorische Maßnahmen für erforderlich, die über die bereits erfolgten politischen Beschlüsse hinausgehen, etwa zum Wasserstoffbeschleunigungsgesetz, zur Importstrategie oder zum Wasserstoffkernnetz. Diese wichtigen Energiewendevorhaben hatte die ehemalige Ampel-Koalition im vergangenen Sommer beschlossen.
Insbesondere das Wasserstoffkernnetz gilt als Initialzündung für eine künftige Wasserstoffwirtschaft. Dieses mittlerweile von der BNetzA genehmigte Vorhaben hat eine Gesamtlänge von 9040 km und besteht zum überwiegenden Teil aus bis 2032 umgewidmeten Erdgasleitungen (rund 60 %). Hinzu kommen mehrere Tausend Kilometer eines hochmodernen Neubaunetzes. Ende November 2024 beschloss die Förderbank KfW, ein Darlehen in Höhe von 24 Mrd. Euro zur Verfügung zu stellen, mit dem die Anlaufverluste der privaten Netzinvestoren ausgeglichen werden sollen.
Prozesswärme per Wasserstoff erzeugen
Doch als sicher gilt, dass dieses Vorhaben nicht ausreichen wird, die Haushalte und Industrie flächendeckend zu versorgen. Die Erfordernisse für die Industrie zeigt eine DVGW-Studie anhand der Versorgung mit Prozesswärme. Der Bedarf für diese Wärme-Energieform im Temperaturbereich von 100 bis 1.500 Grad Celsius betrug in den vergangenen Jahren rund 200 TWh. Dies entspricht fast einem Zehntel des Endenergiebedarfs (Referenzjahr: 2020) von 2.318 TWh und einem Fünftel des Gasbedarfs in Deutschland. Laut der Studie, die über 5.600 Industriestandorte erfasst, sind 27 Prozent der untersuchten Standorte weniger als ein Kilometer vom geplanten Wasserstoff-Kernnetz entfernt und könnten direkt darüber versorgt werden. 78 Prozent des Gasbedarfs für Prozesswärme wird allerdings in einer Entfernung von über einem Kilometer zu diesem Netz entstehen, haben die die Studienautoren ermittelt. Dabei sind auch Entfernungen über einige zig Kilometer zu überbrücken. Die Versorgung dieser Standorte kann damit nur über ein wasserstofffähiges Verteilnetz erfolgen.
Folgerichtig fordert DVGW-Chef Linke, den Fokus beim Ausbau der Wasserstoffinfrastrukturen stärker auf die Verteilnetzebene zu legen. „Der Wasserstoffhochlauf in Deutschland wird dann zum Erfolg, wenn alle Lücken in der gesamten Wertschöpfungskette geschlossen werden. Je umfangreicher das gelingt, desto schneller kommen wir unserem gemeinsamen Ziel näher, Deutschland mit klimaneutraler Energie zu versorgen“, unterstreicht er.
Strom aus erneuerbaren Energie ist nicht immer eine Alternative
Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Strom aus erneuerbaren Energien nur eingeschränkt eine Alternative darstellt. Laut der genannten Studie lassen sich prozessbedingt nicht alle Betriebe, die heute Erdgas aus dem Verteilnetz für ihre Prozesswärme beziehen, auf elektrische Systeme oder Verfahren umstellen. „Bei einem Wegfall der Gasversorgung und ohne die Möglichkeit, Wasserstoff über die Verteilnetze zu beziehen, wären diese Betriebe kaum zukunftsfähig, denn ihre Produkte hätten entweder einen zu hohen Carbon-Footprint bzw. würden mit steigenden Emissionsausgleichskosten belastet werden. Dies hätte mit Blick auf die Wirtschaftskraft von Industriestandorten erhebliche Auswirkungen“, warnt Linke.
Die Studie hat hierzu auch die Effekte auf den Arbeitsmarkt abgeschätzt. Nach Berechnungen von DMT Energy Engineers, einer Tochter des TÜV Nord, wären von einer möglichen Versorgungslücke bundesweit rund 770.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Landkreisen und Kommunen ohne zukünftige Wasserstoffversorgung betroffen. Deutschland müsse daher der Breite und Tiefe seiner industriellen und gewerblichen Aktivitäten angemessen, dekarbonisierte Energie anbieten – und zwar in der Fläche und allerorts.
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Wasserstoff über Pipelines importieren
Doch woher soll der benötigte Wasserstoff kommen? Die Bundesregierung erwartet in Ihrer Importstrategie 2030 für Deutschland einen jährlichen Bedarf an Wasserstoff und Derivaten (u.a. Methanol und Ammoniak) in Höhe von 95 bis 130 Terrawattstunden (TWh). Dabei rechnet sie mit einem Importanteil von 50 bis 70 Prozent. Bis zum Jahr 2045 soll die Nachfrage auf etwa 360 bis 500 TWh für Wasserstoff sowie 200 TWh für die Wasserstoffderivate steigen. Laut Dr. Markus Menges ist global betrachtet die Zahl an Ländern gering, die auf Wasserstoffimporte angewiesen sind. Auf dem DVGW-Kongress in Berlin nannte der Energiemanager beim Unternehmen Securing Energy for Europe (SEFE) hier neben Deutschland: Belgien, Niederlande, Südkorea und Japan sowie ggf. China und Indien.
Nach Experteneinschätzung dürfte gasförmiger Wasserstoff vorwiegend über Pipelines transportiert werden. Dort wo dies nicht möglich ist, etwa aus Erzeugerländern in Afrika oder Südamerika, wird der Import vorwiegend per Schiff und aufgrund des besseren Handling als Derivate erfolgen. Bei der Frage „Wasserstoff oder Derivate?“ ist neben der Transportfrage laut Menges auch der Bedarf der jeweiligen Industriebranchen entscheidend. „Importeure müssen deutlich tiefer die Wertschöpfungsketten beim Anwender betrachten und eine Entscheidung treffen, welche Moleküle sie importieren wollen“, unterstrich der SEFE-Manager auf der Veranstaltung in Berlin.
Vertrauen zwischen Importeur und Endabnehmer ist wichtig
Von der Erfordernis einer Langfristbeziehung und Vertrauen zwischen Importeur und Endabnehmer spricht auch Clemens Lange. „Man muss erklären können, weshalb man glaubt, dass Wasserstoff eine richtige Lösung ist“, betont der Leiter der Geschäftsentwicklung und grünen Transformation bei VNG Handel & Vertrieb. Der Gasimporteur und Fernleitungsnetzbetreiber mit Sitz in Leipzig betreibt neben seinen Wasserstoffaktivitäten in Deutschland internationale Kooperationen in Norwegen, Algerien, Oman und Chile.
Mit Total Energy ist VNG eine Partnerschaft eingegangen, die die Erzeugung von grünem Strom zur Wasserstofferzeugung und die Verschiffung von Ammoniak und Wasserstoff umfasst. „Wir schauen uns die gesamte Wertschöpfungskette an“, sagte Lange auf dem DVGW-Kongress. Dazu pflegt man „strategische Partnerschaften auf Kundenseite als Upstream-Downstream-Bindeglied“. Ein Argument für die Intensivierung entsprechender Kooperationen ist die Wirtschaftlichkeit. Denn nach der Aussage Langes reichen die aktuellen Fördermittel nicht aus, größere Wasserstoffimportprojekte abzusichern. Deshalb suche man Partner, die diesen Weg mitgehen.
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Höegh LNG konzentriert sich auf Ammoniak
Beim Unternehmen Höegh LNG AS will man Wasserstoffimportprojekte ohne langfristige Förderungen umsetzen. „Man kann den Wasserstoff-Hochlauf nicht hochsubventionieren“, sagte Daniel Muthmann, Leiter der Geschäftsentwicklung. Das Unternehmen Höegh LNG konzentriert sich auf das Wasserstoffderivat Ammoniak. Diese Option ist im Vergleich zum reinen Wasserstofftransport laut Muthmann zwar mit Umwandlungsverlusten verbunden, allerdings spreche für den Ammoniaktransport, dass dieser etabliert sei. Hinzu kämen der Zugang zur Produktion mit „besten Bedingungen für grünen Wasserstoff“ sowie der häufig schnellere Ausbau in den Erzeugungsländern aufgrund politischer Unterstützung.
Höegh LNG setzt hier auf maritime Ammoniak-zu-Wassersoff-Terminals und entwickelt derzeit das weltweit erste Ammoniak-Cracker-Modul für maritime Anwendungen im Industriemaßstab. Eine erste Testanlage soll in Norwegen den Betrieb aufnehmen.
Diversifizierung stärkt Versorgungssicherheit
Beim DVGW bewertet man die im vergangenen Sommer von der ehemaligen Bundesregierung beschlossene Importstrategie positiv. Dazu zählt DVGW-Chef Linke, dass mit dem geplanten Aufbau diversifizierter Importrouten zum Bezug von Wasserstoff und seinen Derivaten über ein transeuropäisches Wasserstoffnetz und einen schiffsbasierten Import das Risiko von Lieferausfällen reduziert werden soll. Dies stärke die Versorgungssicherheit in unsicheren geopolitischen Zeiten.
Ähnliche argumentiert Fraunhofer ISI. Dort warnt man in einer im Rahmen des Forschungsprojekts HyPat durchgeführte Metastudie jedoch davor, beim Aufbau einer Wasserstoff-Pipelineinfrastruktur die gleichen Fehler wie beim Auf- und Ausbau des Gasnetzes mit einer zu starken Fokussierung auf wenige Anbieter zu machen. Daher sollte nicht automatisch der kosteneffizienteste Importpfad gewählt werden, raten die Fraunhofer-Experten. Durch verschiedene Lieferanten, Routen und Verkehrsträger sowie heimische Produktion anteiliger Mengen würden Abhängigkeiten reduziert.
Kooperationen mit anderen Staaten eingehen
Das Fraunhofer ISI empfiehlt, dass sich Deutschland aus einer wirtschaftlichen Perspektive auf EU-Staaten mit guten Erneuerbaren-Potenzialen wie Spanien und EU-Anrainerstaaten wie Norwegen konzentrieren sollte. Diese seien verlässliche Partner und so würde auch die EU gestärkt.
Insgesamt kommen die Studienautoren zum Schluss, dass der Aufbau eines entsprechenden Pipelinenetzes zwar zeit- und kapitalintensiv ist, es sich aber aufgrund eines langsam anlaufenden Markthochlaufes realisieren lasse. Hinsichtlich einer Importstrategie für Wasserstoffderivate sollten laut der Fraunhofer-Forscher die Spezifika bei Wasserstoffderivaten wie e-Kerosin, Ammoniak oder Methanol berücksichtigt werden. Während für e-Kerosin mit Blick auf die Klimaziele im Flugverkehr so gut wie keine Alternativen vorhanden seien und auch bestehende Importinfrastrukturen weiter genutzt werden könnten, wird auf die hohen Umwandlungsverluste des Ammoniak-Pfads verwiesen.
Was die Kostenseite betrifft, liefert eine weitere DVGW-Studie, in Zusammenarbeit unter anderem mit dem EWI, Erkenntnisse über den Vergleich mit einer durchgehenden Strom- und Wärmeversorgung mit grünem Strom.
Unter dem Strich günstiger als Strom
Danach ist die Versorgung mit grünen Gasen unter dem Strich deutlich günstiger als die Versorgung mit Strom. Während die Gesamtkosten bis 2035 für die Wasserstoff-Netzinvestitionen bei rund 70 Milliarden Euro liegen, betragen diese laut Studie für den Stromnetzausbau rund 730 Milliarden. Euro. Hintergrund ist unter anderem die kostengünstigere Umnutzung der vorhandenen Gasinfrastruktur für Wasserstoff. „Diversifizierung und maximale Technologieoffenheit sind nicht nur zur Senkung der CO2-Emissionen notwendig; sie machen Klimaschutz für Industrie und Verbraucher zudem wirtschaftlich und bezahlbar“, betont DVGW-Chef Linke.