Physische künstliche Intelligenz

Nvidia-Experte erklärt: Das bringt KI dem Maschinenbau

Digitale Zwillinge, KI und Physiksimulationen verschmelzen zu einem Gamechanger für industrielle Prozesse. Was hinter dem Begriff Physische KI steckt – und was bereits möglich ist.

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Timo Kistner ist EMEA Industry Lead – AI for Manufacturing and Industrial bei Nvidia.
Timo Kistner ist EMEA Industry Lead – AI for Manufacturing and Industrial bei Nvidia.

Die derzeitigen Durchbrüche im Bereich der digitalen KI ermöglichen den Einsatz in der physischen Welt, vor allem natürlich auch in der Industrie. Was bedeutet denn der Begriff physische KI konkret im industriellen Kontext für Sie?

Timo Kistner: Was wir damit meinen, ist die Kombination aus jeglichen KI-Modellen mit einer physikbasierten Simulation. Zum Beispiel: Wenn ich heute auf meinem Smartphone ein Sprachmodell verwende – egal, welches Tool das ist – dann ist das Tool an sich sehr mächtig und ich bekomme generierte Antworten, wie ich sie vor ein paar Jahren noch nicht bekommen konnte. Die Einschränkung, die diese Tools heute haben, ist, dass sie keinen räumlichen Kontext haben. Das heißt, das Tool weiß nicht, in welchem Zusammenhang ich mich gerade bewege und gibt mir keine entsprechenden Antworten auf diesen Zusammenhang. Und das ist, was wir mit Physical AI meinen: Wir stellen den Kontext her zwischen dem KI-Modell und dem Raum, in dem wir uns bewegen.

Was heißt das jetzt für das Industrieumfeld? Zum Beispiel: Wo ich bisher für die Qualitätskontrolle mein Modell mit den Daten einer Maschine trainiert habe, bin ich in der Zukunft in der Lage, mir einen digitalen Zwilling der Maschine zu erstellen, den Physik-basiert zu simulieren. Das ist wichtig: Nicht eine Simulation im Sinne von ich habe eine grobe Annäherung, sondern wirklich eine physikalisch korrekte, Physik-basierte Simulation. Dann bin ich in der Lage, das KI-Modell in diesem physikalisch korrekt abgebildeten digitalen Zwilling auch direkt zu trainieren.

Das heißt, ich muss nicht mehr das KI-Modell mit den Daten der Maschine direkt trainieren, sondern ich kann das in meinem digitalen Zwilling machen, auf Basis physikalisch korrekter Abbildung.

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Dafür hat Ihr Unternehmen auch eine Technologie. Das Nvidia Omniverse ist eine Plattform für das industrielle Metaverse und für das Erstellen von digitalen Zwillingen. Welche Vorteile bietet das Omniverse denn Maschinenbauern?

Kistner: Also zunächst mal muss man verstehen, wofür Omniverse gedacht ist. Omniverse ist eine Plattform für Kollaboration und für Entwicklung. Kollaboration aus dem Blickwinkel heraus, dass wir damit unterschiedlichste Entwicklertools zusammenführen. Das heißt, wenn ich heute als Maschinenbauer oder als Industrieunternehmen meine Produkte entwickle, dann habe ich in der Regel eine Vielzahl an Tools, die ich nutze, um diese Produkte zu entwickeln oder meine Fabrik zu planen und zu optimieren, Produkte einzuführen in der Fabrik und so weiter. Diese Tools sprechen mehr oder weniger miteinander.

Genau das wollen wir mit dem Kollaborationsaspekt überwinden, indem wir sagen, wir sind in der Lage, die Daten aus den einzelnen Tools – mechanische, elektrische, wie auch immer geartete Daten – in einen virtuellen Raum zu bringen. Das heißt, ich verbinde all diese Tools und bin plötzlich in der Lage, die Einzelteile meines Produktes oder meiner Fabrik in einem virtuellen Raum abzubilden. Das heißt, ich habe ein viel früheres Verständnis davon, wie mein Produkt denn eigentlich ausschaut. Ich sehe viel früher: Hoppla, in der Planung meiner Fabrik, da gibt's irgendwie eine Kollision zwischen einem Roboter und einer anderen Maschine, weil ich eben die Zusammenhänge in den einzelnen Tools nicht erkennen kann. Das heißt, ich werde dadurch effizienter

Wir haben Beispiele aus der Industrie, wo wir sehen, dass wir allein dadurch, dass wir diese Tools zusammenführen, deutlich mehr Effizienz und damit deutlich mehr Geschwindigkeit/Time-to-market erreichen.

Und der zweite Aspekt ist dann eben die Entwicklungsseite: Omniverse als Plattform, um Physical AI zu entwickeln. Das heißt, ich nutze auch da die Möglichkeit, dass ich all die Datenquellen zusammenführen kann, um meine wie auch immer geartete intelligente Maschine, meinen Roboter in diesem virtuellen Raum zu trainieren. Das heißt, ich kann wirklich vom Beginn der Entwicklung bis zur Zertifizierung meines Produktes virtuell arbeiten und auch das bringt mir wieder Effizienz.

In der Industrie wird ja oft als erstes gefragt, rechnet sich das oder warum sollte ich das machen? Haben Sie Beispiele, bei denen sich physische KI schon wirtschaftlich bewährt hat?

Kistner: Absolut. Da gibt's einige Beispiele dazu. BMW als einer unserer Partner nutzt unter anderem eben Omniverse, um sowohl Kollaboration als auch diese Physik-basierte Simulation voranzutreiben. Ein Beispiel ist die neue Fabrik, die man entworfen hat in Ungarn in Debrecen: Da sprechen die Kollegen von 20 bis 30 Prozent Effizienzgewinn einfach dadurch, dass die Fabrikplaner gemeinsam in Omniverse sehen, wie schauen denn die Einzelteile dieser Fabrik aus? Bis vor einigen Jahren haben wir in den einzelnen Tools ja nur Teilabschnitte einer Fabrik gesehen und haben die dann wieder über diese Tools hinweg zusammenbauen müssen. Heute sind wir in der Lage, die komplette Fabrik abzubilden.

Anderes Beispiel aus unserer Partnerschaft mit Siemens: ein Schiff von HD Hyundai, das man auf Basis von unterschiedlichsten Tools entwickelt hat und die Datenquellen zusammengeführt hat, um in Omniverse in Echtzeit zu visualisieren: Wie schaut das denn gerade aus? Wie schauen die elektrischen Systeme aus? Wie schauen die ganzen Rohrleitungen aus? Da sprechen wir über 7 Millionen Einzelteile. 7 Millionen Einzelteile dieses gesamten Schiffes, bei denen wir vorher gar nicht in der Lage gewesen wären, die zu visualisieren. Heute wird jede Änderung, die wir in den Tools vornehmen, in Echtzeit in Omniverse abgebildet. Dadurch bin ich effizienter und deutlich schneller, bringe die Entwicklerteams enger zusammen und habe ein besseres Verständnis, wie das Gesamtkonstrukt am Ende ausschaut.

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Nvidia betont auch die Rolle der KI-gesteuerten Robotik, um Produktivität zu steigern und Fehler zu reduzieren in der Fertigung. In diesem Bereich arbeiten Sie beispielsweise mit Kion und Accenture zusammen, um Lieferketten mit KI-gestützten Robotern und digitalen Zwillingen zu optimieren. Welche Erfahrungen gibt es hier bereits und welche konkreten Vorteile ergeben sich für Unternehmen bei einer solchen Optimierung von Lieferketten und Fabrikabläufen?

Kistner: Wir kommen immer wieder auf den Ansatz zur Kollaboration und Entwicklungsplattform und das Management von sehr komplexen Abläufen zurück. Was wir da [bei Kion] simulieren, ist zum einen: Wie können wir entsprechend Warenlager optimieren? Das heißt, ich kann plötzlich Simulationen durchführen, wo ich in viel größerem Umfang unterschiedlichste Szenarien anschauen kann. Auch das ist ein wichtiger Aspekt. Unterschiedlichste Szenarien, die ich vorher mühsam von Hand hätte aufbauen müssen, kann ich heute mit synthetischen Daten generieren lassen, um wirklich das beste Setup für mein Warenlager zu finden. Das ist Punkt eins.

Punkt zwei ist, ich bin damit dann in der Lage, genau die Roboter, die Sie angesprochen haben – AMRs, AGVs – in einer viel größeren Tiefe und Genauigkeit und mit einer viel höheren Anzahl der entsprechenden Roboter zu simulieren. All das versetzt mich in die Lage, ein ganz anderes Level von Komplexität am Ende zu managen und damit auch entsprechend wieder effizienter zu werden.

Was denken Sie, sind mittel- bis langfristig die Potenziale von KI in der Industrie?

Kistner: Also zunächst sind wir davon überzeugt, dass ohne KI in Zukunft wenig passieren wird. KI wird ein essenzieller Bestandteil jeder Fertigung, jeder Entwicklung, jedes Produktes sein. Es ist wichtig, jetzt damit zu beginnen. Ich glaube, es ist schwer vorherzusagen, was genau der Impact für jedes einzelne Unternehmen sein wird. Sei es im Sinne von mehr Absatz meiner Produkte, sei es im Sinne von Effizienz der Produkte meiner Fabrik – das ist abhängig vom jeweiligen einzelnen Unternehmen. Wichtig ist, dass ich mich jetzt damit beschäftige. Ich muss jetzt damit anfangen, weil ich am Ende sonst eine Lücke sehen werde im Vergleich zu meinen Wettbewerbern. Das betrifft sowohl die künstliche Intelligenz, das betrifft aber auch das Thema Physik-basierte Simulationen.

Wir haben jetzt viel über Technik gesprochen, aber die Menschen spielen ja weiterhin eine große Rolle. Oft ist es auch eine Herausforderung, den Wert und die praktischen Anwendungen von KI intern zu kommunizieren. Haben Sie Tipps für Unternehmen, wie man den Nutzen von KI verständlich macht und Akzeptanz im Unternehmen schafft?

Kistner: Wichtig ist, dass ich jetzt damit starte. Das heißt, einfache Dinge in die täglichen Abläufe integrieren – seien es Copiloten, die es ja in zahlreichen Varianten gibt oder zu klären, wie nutze ich die denn effizient. Der Copilot ist nicht unbedingt nur die nächste Evolution der Suche. So kann ich ihn natürlich nutzen, es ist aber nicht unbedingt das, was die KI-Nutzung stark macht. Sondern wenn ich entsprechende Rahmenparameter vorgebe, dann werde ich damit auch deutlich stärkere Ergebnisse bekommen.

Das heißt, einfache Mittel einführen und die Mitarbeiter trainieren: Was kann ich denn überhaupt damit anfangen? Und ich glaube, was dann wichtig ist, gerade wenn wir über das Fabrikumfeld sprechen, aber genauso auch in der Produktentwicklung: Wie kann ich diese Technologie nutzen? Wie kann ich wirklich jeden einbinden? Ich kann jetzt am Anfang jeden einzelnen Mitarbeiter einbinden, aber ich muss mit einer größeren Gruppe beginnen. Ich muss Mitarbeiter trainieren, die dann nachher als Multiplikator dienen, um wiederum die weitere Belegschaft zu motivieren, diese Tools zu nutzen.

Ich denke, was wir durchaus sehen ist: Manchmal mag der Anfang vielleicht ein bisschen schwierig sein. Sobald man sich aber dann gewöhnt hat – der Effekt und die Effizienz, die man dadurch gewinnt, ist schon recht beeindruckend und ich habe bisher kein Projekt gesehen, wo wir dann festgestellt haben, na ja, okay, die Mitarbeiter sind am Ende nicht begeistert und möchten eigentlich nicht mehr davon.

Welche Missverständnisse begegnen Ihnen dann am häufigsten, wenn es um KI in der Industrie geht? Sie haben jetzt die Chance, sie aus dem Weg zu räumen.

Kistner: Mittlerweile muss ich sagen, sind viele dieser Missverständnisse behoben und aufgeräumt. Sicherlich eine Frage, die immer wieder aufgekommen ist, war zunächst mal, was wird denn mit KI am Ende passieren? Ist mein Job deswegen in irgendeiner Form bedroht? Auch da muss man einfach wiederholen: Wir werden gar nicht all die Fachkräfte haben, die wir am Ende bräuchten und dementsprechend sind diese Tools zwingend notwendig, um überhaupt effizient weiter die Firma betreiben zu können.

Die Frage ist nicht, wird die KI meinen Job übernehmen, sondern ist es die Person, die sich mit KI befasst und KI nutzen kann, die meinen Job in irgendeiner Form dann vielleicht mal gefährdet. Wichtig ist, dass wir jetzt mit diesen Themen starten, dass ich mich jetzt damit befasse. Es geht nicht darum, KI um der KI Willen zu machen und dass ich jetzt innerhalb der nächsten fünf, sechs Wochen unbedingt das nächste Projekt umsetzen muss. Aber ich muss mich jetzt damit befassen: Was sind denn die Hebel, die ich habe? Und wo habe ich denn in Zukunft die Lücken, die ich mit diesen Tools schließen muss?

Dieser Text basiert auf Auszügen aus dem Podcast Industry Insights. Die Folge mit Timo Kistner finden Sie überall, wo es Podcasts gibt oder gleich hier:

Industry Insights: Das sind die Moderatorinnen

Julia Dusold und Anja Ringel

Julia Dusold (links) ist Technik-Redakteurin bei mi connect. Sie beschäftigt sich mit verschiedenen Fertigungstechnologien, zum Beispiel der Zerspanung, der Lasertechnik und dem 3D-Druck. Außerdem in Julias Portfolio: Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz und Quantentechnologie. Gemeinsam mit der Wirtschaftsredakteurin Anja Ringel produziert und moderiert sie den Interview-Podcast Industry Insights. Vor ihrer Arbeit bei mi connect hat Julia zuerst Physik und dann Wissenskommunikation studiert. In ihrer Freizeit ist sie gerne am, im und auf dem Wasser unterwegs oder reist auf diverse Weisen in fiktive Welten. Folgen Sie Julia Dusold auch auf LinkedIn und Xing.

Dass sie Redakteurin werden will, wusste Anja Ringel (rechts) schon zu Schulzeiten. Als Chefredakteurin ihrer Schülerzeitung hat sie Lehrkräfte und Schüler interviewt, das Mensaessen getestet und ist Fragen wie "Wieso hat Wasser ein Mindesthaltbarkeitsdatum" nachgegangen. Nach Stationen bei diversen Tageszeitungen schaut sie bei "Produktion" nun den Unternehmen auf die Finger oder besser gesagt auf die Bilanzen. Als Wirtschaftsredakteurin kümmert sie sich aber auch um Themen wie Fachkräftemangel, Diversity, Digitalisierung oder Unternehmenskultur. Privat liebt sie das Reisen und nutzt ihre Urlaube, um die Welt zu entdecken. Folgen Sie Anja Ringel auch auf LinkedIn und Xing.

FAQ zu physischer KI

Was bedeutet 'physische KI'?

Physische KI (auch 'physikalische KI' oder 'Physical AI') bezeichnet künstliche Intelligenz, die nicht nur digital agiert, sondern direkt mit der physischen Welt interagiert – etwa durch Roboter, autonome Fahrzeuge oder intelligente Maschinen. Sie kombiniert KI-Modelle mit Sensorik, Aktoren und Simulationen, um Aufgaben in Echtzeit und mit hoher Präzision auszuführen.

Wie unterscheidet sich physische KI von generativer KI?

Generative KI erstellt Inhalte wie Texte oder Bilder in virtuellen Umgebungen. Physische KI hingegen ist „KI mit Körper“ – sie sieht, bewegt sich und handelt in der realen Welt.

Wo wird physische KI bereits eingesetzt?

Physische KI findet Anwendung in der Fertigung, Logistik, Automobilindustrie und zunehmend auch in der Bau- und Lebensmittelbranche. Beispiele sind humanoide Roboter in der Montage, autonome Lagerroboter oder Cobots in der Lebensmittelzubereitung.

Was sind digitale Zwillinge und warum sind sie wichtig?

Digitale Zwillinge sind virtuelle Abbilder realer Maschinen oder Prozesse. Sie ermöglichen risikofreies Training und Simulation für physische KI-Systeme. So können Roboter Aufgaben lernen, bevor sie in der echten Umgebung eingesetzt werden.

Welche Vorteile bietet physische KI für die Industrie?

  • Effizienzsteigerung durch adaptive Automatisierung
  • Kostenreduktion durch weniger Ausfallzeiten und präzisere Planung
  • Flexibilität bei variablen Prozessen
  • Entlastung bei Fachkräftemangel
  • Sicherheit durch intelligente Sensorik und Simulationen

Welche Herausforderungen gibt es?

Die Integration physischer KI erfordert hohe Rechenleistung, interdisziplinäre Teams und Akzeptanz bei Mitarbeitenden. Zudem sind Datenschutz, Sicherheit und ethische Fragen zentrale Themen.

Wie sieht die Zukunft der physischen KI aus?

Experten prognostizieren, dass physische KI bis 2035 einen Milliardenmarkt erschließen wird. Sie gilt als Schlüsseltechnologie für die nächste Stufe der industriellen Automatisierung und wird zunehmend auch für mittelständische Unternehmen wirtschaftlich attraktiv.