
Mit einer KI-gestützten Plattform für digitale Fabrikmodelle synchronisiert John Deere komplexe Produktstrukturen zwischen Fabrikplanung und Produktentwicklung über die gesamte Planungsphase. Im Bild ist die Montage bei John Deere in Mannheim zu sehen. (Bild: John Deere)
Wie bekommt ein Hersteller wie John Deere eine unglaubliche Variantenflut in den Griff? Auch hier lautet die Antwort: Mit KI. Aber auch digitale Zwillinge sind notwendig. Einen Einblick dazu gibt Jochen Müller, Leiter der Getriebemontage in Mannheim bei John Deere: „Gemeinsam mit der Firma EXP haben wir eine Software entwickelt, die dem Team hilft, mit den zahlreichen Varianten umzugehen. „Wir sind nicht nur bei Landmaschinen wie Traktoren, Feldhäckslern und Mähdreschern aktiv“, erklärt Müller, „sondern auch im Bereich Forestry und stark im Konstruktionssektor, etwa auf Autobahnbaustellen.“ Er betont: „Im vergangenen Jahr haben wir unseren zweimillionsten Traktor gebaut, und die Leistungsspanne unserer Maschinen liegt zwischen 90 und 250 PS.“
Er führt aus, dass aktuell 27.000 Einheiten produziert werden, während es früher über 40.000 waren. Insgesamt arbeiten am Standort etwa 3.000 Personen. Müller stellt klar: „Ein Traktor ist kein Auto, sondern eine mobile Werkzeugmaschine.“ Daraus folge, dass der Kunde den Traktor exakt für die jeweilige Problematik im Feld benötige. Das bedeute für das Unternehmen, Material zu bewegen und zu laden, wobei die Anwendungen und Anforderungen breit gestreut seien.
Was bedeutet Mass Customization bei John Deere?
„Deshalb verfolgen wir eine sogenannte ‚Mass Customization Strategy‘, bei der jedes Produkt individuell auf den Kunden zugeschnitten wird", stellt Müller klar. Daraus ergebe sich, dass sie sich immer weiter vom Standard entfernen und die Stückzahlen sinken, bis hin zum Prototypenbau. Dazu nennt Müller eine Zahl: „Im Schnitt bauen wir statistisch gesehen alle 7,6 Jahre die exakt gleiche Maschine.“ Die Anzahl der theoretisch möglichen Varianten habe man mit EXP berechnet: „Sie liegt bei 2 mal 1052 ", so Müller.
Er beschreibt das Problem, bei dieser Variantenvielfalt den Überblick zu behalten. „Wenn wir ein Bauteil ändern, muss klar sein, in welche Maschinen es eingebaut wird und welche Auswirkungen das hat.“ Müller erklärt, dass sie dafür mit sogenannten SFCs arbeiten und den Traktor in elf grobe Funktionsbereiche wie beispielsweise Chassis, Getriebe, Motor oder Frontachse aufteilen. Diese Struktur werde weiter heruntergebrochen, etwa auf das Kühlsystem, und auf der dritten Ebene finde sich dann beispielsweise der Radiator, von dem es wiederum verschiedene Varianten gibt.


"Wir sprechen bei John Deere nicht von einem, sondern von vielen digitalen Zwillingen, die zu verschiedenen Zeitpunkten in Entwicklung, Fertigung oder Kundensupport aufgebaut werden", sagt Jochen Müller, Leiter Getriebefertigung bei John Deere in Mannheim.
Warum digitale Silos echte Effizienz-Killer sind
„Der Einsatz von abgetrennten IT-Silos ist in Bezug auf effiziente Zusammenarbeit im globalen Umfeld oftmals problematisch", bemängelt Müller. Es gebe unklare Strategien zur digitalen Transformation, unterschiedliche Herangehensweisen in den USA und Europa sowie sogenannte IT-Silos, die den Zugriff auf Daten erschweren. Außerdem betont er die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit über Abteilungs- und Standortgrenzen hinweg, was immer wieder zu Engpässen führt.
Auch die funktionale Orientierung – also das Herunterbrechen von Funktionen von Systemen bis zu Modulen – sei eine Herausforderung. Müller ergänzt: „Laut dem Center for Systems Engineering sehen 76 Prozent der Firmen das Verständnis auf disziplinübergreifender Ebene als großes Problem.“ Er verweist zudem auf eine Studie von PWC, der zufolge knapp 40 Prozent der Zeit darauf verwendet werden, die richtigen Informationen zu finden – das seien etwa zwei Tage pro Arbeitswoche.
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Die wahre Herausforderung heißt Variantenflut
„Wir sprechen bei John Deere nicht von einem, sondern von vielen digitalen Zwillingen, die zu verschiedenen Zeitpunkten in Entwicklung, Fertigung oder Kundensupport aufgebaut werden", berichtet Müller. Die Konfiguration bilde dabei das Herzstück, denn es müsse klar sein, über welche Variante gesprochen werde.
„Es gibt eine Vielzahl an Regeln, die wir mithilfe von Booleschen Algorithmen miteinander verknüpfen" erklärt Müller und ergänzt: „Heute nutzen wir ein Tool, das mithilfe künstlicher Intelligenz Fehler in Konfigurationen erkennt und sogar neue Regeln vorschlägt.“ Dadurch könnten sie jede Baukarte vorab prüfen und Fehler vermeiden. Die KI helfe nicht nur bei der Fehlersuche, sondern auch bei der Weiterentwicklung der Regelwerke.

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Datenverknüpfung ermöglicht visuelle Darstellung jeder Maschine
Müller beschreibt, dass sämtliche Datenpunkte im Unternehmen – egal ob in Excel, SAP, Jira, Tableau oder Windchill – mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner, etwa einer bestimmten Bauteilnummer - im Falle von John Deere einer spezifischen Engineering Variantenbezeichnung - verknüpft werden. „So lässt sich für jedes Teil nachvollziehen, wer verantwortlich ist, wie oft es verwendet wird und in welchen Maschinen es verbaut ist", freut sich Müller. Diese Informationen werden mit virtuellen Daten kombiniert und visualisiert, sodass jede konfigurierte Maschine visuell dargestellt werden kann.
Er hebt hervor: „Wir haben jetzt einen digitalen Zwilling von jeder gebauten oder geplanten Maschine.“ Das Tool ermögliche es, auf jeder Plattform – ob Smartphone oder Rechner – schnell auf die Daten zuzugreifen. „Während das Laden eines Traktors in Windchill früher 45 Minuten dauerte, sind es jetzt nur noch 30 bis 45 Sekunden. Das ist ein Game Changer.“
Kollisionsprüfung: Von mehreren Tagen zu overnight
Das Engineering könne nun visuelle Kollisionsprüfungen durchführen, etwa um zu sehen, ob Bauteile kollidieren oder falsch verlegt sind. "Früher wurden zehn bis zwanzig Maschinen einzeln geprüft, was pro Maschine drei bis vier Tage dauerte. Heute könnten über Nacht mehrere hundert Maschinen automatisch überprüft werden, und am nächsten Tag liegt ein Report mit den Ergebnissen vor", beschreibt Müller.
Er ergänzt: „Das System ist mit anderen verknüpft und zeigt auf Knopfdruck, wer für ein Teil verantwortlich ist, wo es verbaut wird und wie der Entwicklungsstatus ist. Auch Kostenveränderungen können jederzeit nachvollzogen werden.“


"Unsere Plattform setzt sich auf die bestehenden Quellsysteme wie ERP, PLM oder IoT auf - ohne diese abzulösen - und bildet daraus den digitalen Zwilling ab, sagt Markus Herhoffer, CTO bei EXP Software.
Die EXP-Plattform als Nervenzentrum
Einen tieferen Einblick gibt zudem Markus Herhoffer, CTO von der EXP Software GmbH: „Für die Vielzahl an digitalen Zwillingen verwenden wir den Begriff ‚digital Thread‘.“ Herhoffer betont, dass man mehr als einen einzelnen digitalen Zwilling brauche, nämlich eine ganze Reihe, die sich dem jeweiligen Kontext anpassen. „Unsere Plattform setzt sich auf die bestehenden Quellsysteme wie ERP, PLM oder IoT auf - ohne diese abzulösen - und bildet daraus den digitalen Zwilling ab.“
Dazu ergänzt Herhoffer: „Das ist nur mit AI möglich, da viele Verbindungen zwischen Daten unklar sind und erst durch AI hergestellt werden können.“ Ein weiterer wichtiger Punkt seien offene APIs, damit auch technisch versierte Mitarbeiter in den Fachabteilungen mit Low Code oder Scripting auf die Daten zugreifen können. „Die Daten bleiben in den Quellsystemen, und wir stellen nur die Verbindungen her.“
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Was der 'Digital Thread' wirklich kann
Dazu beschreibt Herhoffer: „Die Plattform besteht aus drei Hauptkomponenten: der klassischen Stückliste als Baumstruktur, einer Graphdatenbank für Organisationsdaten und einer Process Engine für die Geschäftsprozesse.“ Viele Daten seien Abfallprodukte digitalisierter Prozesse, die dann wieder in den digitalen Zwilling einfließen.
Herhoffer fasst zusammen: „Wir haben einen digitalen Zwilling der gesamten Struktur, einen 3D-Viewer für alle Plattformen, ein AI-Interface zur Lösung von Konfigurationsproblemen, eine Zeitmaschine für frühere Zustände, Kollaborationsfeatures und eine offene API geschaffen.“ Er stellt die These auf: „Eine zuverlässige generative AI ist aber nur möglich, wenn die Datenbasis ein sehr gepflegter digitaler Zwilling ist.“ Die Qualitätssicherung der AI müsse dabei wissenschaftlich erfolgen, um Halluzinationen der KI zu vermeiden.
Interview mit Jochen Müller von John Deere
In Ergänzung zu diesem Beitrag finden Sie nachfolgend ein Interview mit Jochen Müller, Leiter Getriebemontage bei John Deere in Mannheim. Das Gespräch führte Produktion-Redakteur Dietmar Poll: Interview Jochen Müller.