Reparatur, Werkstatt

Ab in die Werkstatt: Für das Jahr 2015 verzeichnete die Statistik des Kraftfahrt-Bundesamts 326 Rückrufaktionen. Letztlich schadet eine Rückrufaktion nicht nur dem Autobesitzer, der auf sein Fahrzeug zwischenzeitlich verzichten muss, sondern vor allem dem OEM selbst in Form von hohen Kosten für die Rückrufe. - (Bild: Fotolia/Photographee.eu)

2016 wird nach 2014 als zweites Negativ-Rekordjahr in puncto Rückrufe in die Automobilgeschichte eingehen. So das Ergebnis einer Studie des Center of Automotive Managment (CAM).

Demnach mussten die OEMs allein auf dem Referenzmarkt USA über 47,9 Millionen Pkw wegen Sicherheitsproblemen zurückrufen.

Ein Ende dieses Trends scheint nicht in Sicht. Rüdiger Tibbe, Chef von Excelliance Management Partners, sagt: „Im Moment ist es wirklich so, dass fast kein Unternehmen lupenrein ist, was die Qualitätsperformance angeht. Ich halte das für extrem besorgniserregend, denn meines Erachtens nimmt dieser Trend weiter zu.“

Er sollte es wissen. Schließlich hat der ehemalige Manager von General Motors und Valeo nun mit seiner Industry Task Force einen tiefen Einblick in Produktion, Einkauf und Qualitätssicherung von Autobauern und Zulieferern.

Autoindustrie: Strukturelle Probleme

Doch was sind die Gründe für die wachsenden Qualitätsprobleme? Prof. Stefan Bratzel, Leiter des CAM-Instituts, sieht strukturelle Probleme in der Autoindustrie. So sei die technische Komplexität der Autos in den letzten zehn bis 15 Jahren enorm gestiegen. Die anspruchsvolle Technik führt zu mehr Fehlern. Komplexität macht hierüber hinaus die Prozesse in der Produktion komplex und schwerer zu handeln. Tibbe: „Keep it smart and simple oder Kaizen sind aus dem Fokus geraten.“ Die Zahl der Modelle und Modellvarianten scheint uferlos.

Ein Beispiel: Laut Statistikdienstleister Statista hat VW 29 Modelle und 1.255 Modellvarianten im Port­folio. Während deren Zahl in den letzten Jahren immer weiter anschwoll, haben sich die Entwicklungszeiten der Ingenieure verkürzt. Gleichzeitig haben die OEMs den Headcount in den Entwicklungs- und Planungsabteilungen nicht entsprechend angepasst. „Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt“, sagt Tibbe.

Video: Rückrufe - Warum Autos trotz Mängel auf der Straße bleiben

So haben OEMs und Zulieferer ihre Qualitätssysteme nicht an die Geschwindigkeit angepasst, die von der Produktentwicklung vorgegeben wurde. Als Grund für die Zunahme der Entwicklungsgeschwindigkeit führt CAM-Leiter Bratzel die gestiegene Wettbewerbsintensität an. Deshalb bringen die Hersteller in immer kürzerer Zeit neue Modelle respektive Derivate auf den Markt. „Der hohe Zeitdruck in der Produktentwicklung wirkt sich jedoch negativ auf die Qualitätssicherung aus“, so Bratzel.

 

Um möglichst schnell die neuen Modelle auf den Markt zu bringen, haben die Autobauer zudem erhebliche Teile der Wertschöpfung auf die Automobilzulieferer übertragen. Deren Wertschöpfungsanteil ist mittlerweile auf rund 75 Prozent gestiegen. Das Problem dabei: Mit dieser Verlagerung steigen die Anforderungen an das unternehmensübergreifende Qualtitätsmanagement.

Die OEMs müssen nicht nur die zugelieferten Teile einschätzen. Sie müssen meist auch die Qualität der international verteilten Produktionsanlagen ihrer Zulieferer prüfen und durch Prozesse absichern. Tibbe kommentiert: „Ein OEM kann sich für die Qualität eines Bauteils, das von einem Systemlieferanten kommt, der wiederum drei  bis vier eigene Zulieferer hat, nicht mehr verbürgen.“ Die Qualitätssysteme seien nicht durchgängig, müssten es aber sein.

Kostendruck als Gefahr?

Das Problem: Die Autobauer wollen trotz der Installation von Systemanbietern noch immer die Kontrolle über die gesamte Wertschöpfungskette ausüben – bis hin zu den Preisverhandlungen mit den Lieferanten der Lieferanten. Tibbe: „Auf der einen Seite sagen die Autobauer ‚Wir wollen Erleichterung‘, andererseits wollen sie trotzdem immer noch Einfluss nehmen auf Dinge, die sie eigentlich wegdelegiert haben.“ Das Qualitätssystem spiegele das aber nicht wider. Und das führe zu großen Konflikten.

Eine weitere Gefahr für die Produktqualität ist der Kostendruck. Den geben die OEMs an ihre Zulieferer weiter. Der Druck, immer billigere Rohstoffe und Teile einzukaufen, schlägt sich auf die Qualität nieder. Gleichwohl schränkt Tibbe ein: „Man sollte den Kostendruck nicht als Entschuldigung für schlechte Qualität nehmen. Das wäre mir zu billig.“ Schließlich sei das kein neues Phänomen.

Bestes Beispiel ist die López-Ära Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre bei Opel. Der Berufsschotte José Ignacio López quetschte als Opel-Chefeinkäufer die Zulieferer aus wie nie zuvor. Gravierende Qualitätsprobleme waren die Folge, das Wort vom López-Effekt machte die Runde. Dabei beginnt das Qualitätsmanagement schon bei der Auswahl der Zulieferer – und das geschieht in einem Spannungsverhältnis zum Thema Kosteneinsparung. Bratzel sagt: „Dieses Spannungsverhältnis wird man nicht vollständig auflösen können. Denn ohne Kosteneinsparung  – und das ist klar – geht es auch nicht.“

Die Qualitätsprobleme sind also nicht an einer einzigen Ursache festzumachen. Was könnten Lösungen sein? Tibbe sagt: „Es ist nicht nur ein Kulturwechsel, sondern ein echter Paradigmenwechsel notwendig.“ Autobauer und Zulieferer müssten sich lösen von dem bestehenden Qualitätssystem. Auch der Produkt- und Variantenvielfalt sollten die OEMs adé sagen. Laut Tibbe beginnen schon einige Hersteller damit, die Variantenzahl einzudampfen.  „Es ist ein ganz wichtiger Punkt, dass man hier komplett umdenkt und die Produkte und Prozesse vereinfacht“, so der ehemalige GM-Manager.

Darüber hinaus sei es wichtig, die Kommunikation im Unternehmen, aber auch zu den externen Lieferanten, zu verbessern. Konkret: Bei der Qualitätsplanung müssen sich OEMs und Zulieferer frühzeitig zusammensetzen. Die Zulieferer müssen die Qualitätssysteme der Autobauer kennen. Ein weiterer Punkt, den Tibbe mit seinem Team bereits bei zwei OEMs umsetzt, ist die digitale Vernetzung mit dem Kunden, also dem Fahrer. „Ich halte es für sehr wichtig, dass man hier die Brücke schlägt und direkt mit dem Kunden in den Dialog einsteigt“, so der Unternehmensberater.

So viel Gewinn machen die Autohersteller

Beispielsweise via einer App oder einer Servicehotline erfährt der OEM aus erster Hand, wenn es bei seinen Fahrzeugen zu Schwierigkeiten kommt. Tibbe: „Auf diese Weise können konkrete Daten mehr oder weniger in Echtzeit ausgewertet werden. Sind es Fehler, die häufiger auftreten, dann kann ich schon sehr früh reagieren und zwar auch schon in den Entwicklungs- und Planungsabteilungen.“

Over-the-Air-Updates lösen Software-Probleme

Auch CAM-Leiter Bratzel ist überzeugt, dass es wichtig ist, schnell die Fehler der Fahrzeuge zu identifzieren. „Das hört sich aber einfacher an, als es ist“, so Bratzel. Denn das erfordere eine sehr intensive Marktbeobachtung. Darüber hinaus spricht sich der Automotive-Experte für Over-the-Air-Updates für Software-Probleme aus. Vorreiter ist hier Tesla.  Bratzel sagt: „Das wird auch bei allen anderen Automobilherstellern in der nächsten Zeit kommen. Das wird die ganze Thematik erleichtern.“

Kommt nun der Wandel im Qualitätsmanagement? Der CAM-Leiter sagt: „Ich sehe schon den Trend, dass das Thema Rückrufe bei vielen Herstellern eine höhere Priorität bekommt.“ Denn die Rückstellungen, die die OEMs für die Rückrufe bereithalten,  werden zu einer Belastung für die Unternehmen. „Ich glaube nicht, dass die Spitzenwerte, die wir aktuell haben, so auch in den nächsten Jahren linear ansteigen. Irgendwann ist eine Grenze erreicht“, so Bratzel.

Fazit: Bei aller Kritik an den steigenden Rückrufzahlen ist eines festzuhalten: Die Autos sind sicherer geworden sind. Auch das belegt eine Statistik des ADAC – nämlich die Pannenstatistik.

Das sagen die Automobilhersteller zur Rückruf-Thematik

Audi sagt, dass mit der Ausweitung des Portfolios und der wachsenden Komplexität der Produkte eine intensive Qualitätsbeobachtung im Feld eine absolute Notwendigkeit sei. Sensibilität für Kundenbedürfnisse und eine schnelle Reaktion darauf sei gerade im Premiumsegment wichtig. Zudem setze der Autobauer auf eine intensive Qualitätsbeobachtung von Beginn der Entwicklung über den Beschaffungs- bis zum Produktionsprozess.

BMW: Ein dauerhaftes Qualitäts-Monitoring diene als Grundlage für Qualitätsmaßnahmen, zu denen auch freiwillige Rückrufe zählen. Die Anzahl der Rückrufaktionen lag bei BMW in den vergangenen Jahren trotz eines stetig wachsenden Absatzvolumens und zusätzlicher Fahrzeugvarianten in etwa auf demselben Niveau. Aufgrund von Volumensteigerungen und kommunalen Bauteilkonzepten könne es im Einzelfall allerdings zu höheren von einem Rückruf betroffenen Fahrzeugmengen kommen. Das Ziel BMW’s sei es, in seinen Fahrzeugsegmenten die Qualitätsführerschaft auch dort, wo sie die Münchner bislang noch nicht erreicht haben, zu übernehmen. Der ständige Fortschritt bei Qualitäts- beziehungsweise Prüfverfahren lasse potenzielle Qualitätsprobleme bereits in der Entwicklungsphase frühzeitig erkennen und abstellen. Qualität sei zudem bei BMW im Zielsystem für jede Modellreihe an oberster Stelle verankert.

Ford erklärt, dass die Entwicklung der Fahrzeuge zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Produktsicherheit betrieben werde. Das sehe man unter anderem an der sehr geringen Anzahl von Unfällen im Straßenverkehr aufgrund von Produktversagen oder technischen Defekten. Rückrufe sind aus Sicht des Kölner Herstellers nichts Negatives oder Verwerfliches, sondern vielmehr Ausdruck eines hohen Verantwortungsbewusstseins gegenüber den Kunden. Dies spiegelt sich unter anderem darin wider, dass die Mehrzahl der Rückrufe, soweit sie Ford-Fahrzeuge betreffen, nicht von den Behörden angestoßen werden, sondern von Ford selbst – und zwar in der Regel als Folge interner Qualitätskontrollen in den Produktionswerken. Das heißt, Ford behandele das Thema Rückrufe pro-aktiv.

Škoda: Aufgrund der enormen Komplexität moderner Fahrzeuge und der Anforderungen hinsichtlich Sicherheit und Komfort, lasse es sich trotz größter Anstrengungen bei der Entwicklung, in der Fertigung und in der Qualitätssicherung leider nicht ganz vermeiden, dass es gelegentlich zu Beanstandungen komme. Das Ziel der VW-Tochter sei es, die Zahl der Rückrufe kontinuierlich zu reduzieren. In Zukunft könne der tschechische Autobauer mithilfe der Konnektivität einige Software-Updates durchführen, ohne dass der Kunde dafür extra in die Werkstatt fahren muss.

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