Bus-Industrie im digitalen Fadenkreuz

Digitaler Zwilling in der Anwendung bei Daimler Buses

In einem ambitionierten Förderprojekt entsteht ein digitaler Zwilling für die Teilefertigung bei Daimler Buses. Vier Projektbeteiligte - unter anderem Trumpf - geben Einblick in Herausforderungen, Use Cases und technologische Strategien.

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Vom Maschinenpark zum digitalen Zwilling: Wie Daimler Buses mit Partnern die Fertigung digital transformiert. Im Bild ist die EvoBus-Montage im Werk Mannheim zu sehen.
Vom Maschinenpark zum digitalen Zwilling: Wie Daimler Buses mit Partnern die Fertigung digital transformiert. Im Bild ist die EvoBus-Montage im Werk Mannheim zu sehen.

In der Produktion von Linien- und Reisebussen ist Variantenvielfalt Alltag. Am Standort Neu-Ulm fertigt Daimler Buses jährlich rund 2.000 Fahrzeuge – jedes davon individuell konfiguriert. „Wir haben 600 Standardfarben – und rund 50.000 individuelle Kundenwünsche pro Jahr“, erklärt Thomas Bär , verantwortlich für den Bereich Produktion bei Daimler Buses. „Wir sprechen faktisch von Losgröße 1.“

Diese hohe Individualisierung erfordert eine flexible, effiziente und digital durchgängige Produktion. Um diese zu ermöglichen, setzt Daimler Buses seit Januar 2023 auf das Förderprojekt 'Twin Map', das vom BMF unterstützt wird. Ziel ist ein umfassender, lebendiger digitaler Zwilling der Fertigung – nicht nur als Vision, sondern als reale Unterstützung für Betrieb, Planung und Optimierung.

Teilefertigung als Pilotbereich: Der heterogene Maschinenpark

Bär führt aus, dass man sich zunächst auf die eigene Teilefertigung fokussiert habe. „Wir haben früh erkannt, dass wir diesen Bereich modernisieren müssen. Er versorgt unsere Montage mit Bauteilen und ist damit ein zentraler Bestandteil unserer Lieferkette.“

Die Vielfalt der Produktionsprozesse ist dabei enorm: Metallischer 3D-Druck, Kunststoff-Metall-Verbindungen, klassische Blechbearbeitung und zerspanende Verfahren gehören ebenso dazu wie der Prototypenbau für Neuentwicklungen. Rund 60 Maschinen sind im Einsatz – viele davon mit bestehender MES-Anbindung, aber bislang ohne konsistentes, digitales Abbild.

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Predictive Maintenance neu gedacht

„Unser Ziel war es, diese Maschinen mit einem digitalen Zwilling zu versehen – also ein digitales Abbild zu schaffen, das alle relevanten Signale verarbeitet und in Echtzeit Einblicke liefert“, erklärt Bär. Dabei setzt Daimler Buses auf offene Standards wie OPC UA, um Zugriff auf Maschinenparameter, Steuerungssignale und Produktionsdaten zu ermöglichen.

"Von den Anlagen der größeren Maschinenhersteller holen wir uns die digitalen Daten, den digitalen Anlagenzwilling und versuchen sie für uns zu nutzen, um NC-Programme zu optimieren, testen zu können und weitere Effekte auf Predictive Maintenance zu machen", erläutert Bär. Erste Pilotanwendungen konzentrierten sich auf fünf ausgewählte Maschinen – darunter sowohl neue, hochvernetzte Anlagen als auch ältere Bestandsmaschinen. „Wir wollen aus beiden lernen – denn unser Maschinenpark ist sehr heterogen", betont Bär.

Trumpf: Digitale Zwillinge systematisch aufgebaut

Die Firma Trumpf, langjähriger Maschinenlieferant und Projektpartner, bringt ihre Expertise beim Aufbau virtueller Maschinenmodelle ein. „Wenn wir von digitalen Zwillingen sprechen, müssen wir definieren, wofür genau sie gedacht sind“, betont Jonas Zöller, zuständig für Softwareentwicklung im Bereich Lasertechnik bei Trumpf. „Denn ein Zwilling für die virtuelle Inbetriebnahme unterscheidet sich deutlich von einem Zwilling für die Produktionsüberwachung oder Prozesssimulation.“

Trumpf arbeitet deshalb mit einem mehrstufigen Modell: In der ersten Stufe steht der sogenannte virtuelle TSI – ein vollständiges Softwareabbild der Maschinensteuerung inklusive aller Nutzeroberflächen. Diese virtuelle Steuerung wird dann mit Simulationsmodellen verknüpft: „Wir fügen die Ablaufsimulation hinzu, die beispielsweise pneumatische Zylinder realistisch abbildet, inklusive Zeitverhalten und Statuswechsel", beschreibt Zöller.

Was bringt der digitale Zwilling im Busbau wirklich?

In der höchsten Ausbaustufe entsteht schließlich ein vollständiger digitaler Zwilling, der realitätsgetreu arbeitet, wie Zöller darstellt: „Wir können NC-Programme laden und abarbeiten, den Produktionsprozess virtuell durchspielen, Fehler simulieren – etwa eine Kollision oder einen leeren Schmiermittelbehälter.“ Die Maschine reagiert in der Simulation wie in der Realität, inklusive Sensordaten, Steuerungslogik und physikalischer Modelle.

Doch je realistischer ein digitaler Zwilling ist, desto sensibler sind die enthaltenen Daten – insbesondere, wenn Kunden Zugang erhalten sollen. Hier kommt Oliver Rehmann, ebenfalls von Trumpf, ins Spiel: „Unsere Kunden fordern digitale Zwillinge ein – etwa zur Integration in ihre Fertigung oder für virtuelle Inbetriebnahmen. Aber wir können unsere Konstruktionsdaten und Steuerungscodes natürlich nicht ungeschützt weitergeben.“

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Digitale Zwillinge sicher teilen mit 'Twin as a Service'

Die Lösung: Digital Twin as a Service. Dabei bleibt der Zwilling bei Trumpf oder in einer gesicherten Cloud. Der Kunde greift über ein Gateway auf den Zwilling zu – entweder direkt über VPN (Wireguard) oder über eine serverbasierte Architektur mittels MQTT-Protokoll. Diese Gateway-Lösungen ermöglichen es dem Kunden, bestimmte Eingaben vorzunehmen, NC-Programme hochzuladen oder virtuelle Simulationen zu starten – ohne dass er direkten Zugriff auf die sensiblen Maschinendaten erhält.

Dazu erläutert Rehmann: „Wir setzen auf standardisierte Schnittstellen wie OPC UA, bieten aber auch individuelle Erweiterungen, je nach Bedarf. Ziel ist eine skalierbare, sichere Lösung – mit der Möglichkeit, auch mit Peripheriegeräten wie Robotern oder übergeordneter Steuerung zu kommunizieren.“

Ein weiteres Konzept, das derzeit bei Trumpf evaluiert wird, ist die Nutzung des bestehenden Smart View Services: Dabei kann der Kunde über ein Online-Portal auf seine bei Trumpf registrierten Maschinen zugreifen – inklusive Live-Daten, Diagnosen und Steuerungsfunktionen. „Wir prüfen, ob wir dieses Konzept auch auf digitale Zwillinge übertragen können“, so Rehmann.

Simulation für den Anwender: Die Rolle der ISG

Damit ein digitaler Zwilling wirklich einen Mehrwert bietet, muss er nicht nur entwickelt, sondern auch nutzbar gemacht werden. Hier setzt die Firma ISG an. Denis Pfeifer, verantwortlich für die Simulationssoftware des Unternehmens, sagt: „Wir wollen, dass die virtuellen Maschinenmodelle, die bei der Entwicklung ohnehin entstehen, später auch vom Betreiber weitergenutzt werden können.“

Zwei Hauptanwendungsfälle stehen im Fokus: Erstens die Parallelsimulation mit der realen Maschine – zur Qualitätssicherung, Fehlerdiagnose oder Prozessbeobachtung. Zweitens die Software-in-the-Loop-Simulation, bei der der Anwender unabhängig von realer Hardware seine Programme testen und optimieren kann. „So kann man frühzeitig Erkenntnisse gewinnen – und Ausfallzeiten oder Fehler vermeiden“, so Pfeifer.

Dabei ist der technische Aufwand weniger das Problem, wie Pfeifer beschreibt: „Gerade neue Maschinen sind in der Regel mit standardisierten Schnittstellen wie OPC UA ausgestattet und liefern viele Signale. Die Herausforderung liegt eher in organisatorischen Themen: Lizenzen, IP-Schutz, Geschäftsmodelle.“

Altanlagen als besondere Herausforderung

Ein besonderes Augenmerk gilt den Bestandsmaschinen, von denen viele 15 bis 20 Jahre alt sind. „Hier fehlen häufig digitale Modelle, Schnittstellen oder auch nur brauchbare Signallisten“, erklärt Pfeifer. In solchen Fällen müsse der Betreiber selbst versuchen, Modelle nachzubauen – allerdings meist nur mit eingeschränkter Tiefe und Genauigkeit.

Ob sich das lohnt, hängt stark vom Anwendungsfall ab. „Wenn ich nur einfache Abläufe visualisieren will, reicht ein grobes Modell. Für detaillierte Simulationen oder Optimierung brauche ich mehr Daten.“ Pfeifer plädiert deshalb für eine pragmatische Herangehensweise: „Nicht jedes Modell muss perfekt sein – entscheidend ist, dass es für den vorgesehenen Zweck ausreicht.“

Integration statt Insellösungen: Die Rolle der Plattform

Ein weiterer Aspekt betrifft die Integration verschiedener Simulationssoftware. Da Maschinenbauer mit unterschiedlichen Tools arbeiten, droht eine Fragmentierung. Um das zu vermeiden, setzt das Projekt auf eine Plattformlösung, die derzeit an der Hochschule Kempten entwickelt wird. „Das sogenannte NVIDIA-Universe bringt unterschiedliche Modelle zusammen – von 2D-Hallenplänen bis zu detaillierten 3D-Simulationen“, erklärt Pfeifer. Ziel ist eine Umgebung, in der Modelle interagieren können – auch wenn sie aus verschiedenen Quellen stammen.

Der digitale Zwilling ist kein Produkt, sondern ein Prozess

Das Projekt Twin Map zeigt exemplarisch, wie komplex, aber auch wie vielversprechend der Aufbau digitaler Zwillinge in der Industrie ist. „Wir sind überzeugt davon, dass der digitale Zwilling ein Schlüssel zur effizienten, flexiblen und transparenten Produktion ist“, sagt Thomas Bär. Aber er betont auch: „Es braucht Standards, Vertrauen, Partner auf Augenhöhe – und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen.“