
Wie Innovation rund um KI und Digitale Zwillinge die Arbeit in der Entwicklung verändert, erklärt Dieter-Friedrich Sauer im Interview. (Bild: ipopba - stock.adobe.com)
Was steckt typischerweise an Vorarbeiten dahinter, um digitale Zwillinge in die Praxis zu bringen, zum Beispiel in der Vorbereitung von Datenmodellen und -architekturen?
Dieter-Friedrich Sauer: Eine hohe Datenqualität ist eine entscheidende Voraussetzung für die erfolgreiche und schnelle Umsetzung virtueller Zwillinge. Gerade im Maschinen- und Anlagenbau, wo Produkte häufig jahrzehntelang im Einsatz sind, stehen viele Unternehmen vor der Herausforderung, dass die zugrunde liegenden Daten nicht ausreichend strukturiert oder aktuell sind. Hinzu kommt, dass die relevanten Informationen aus zahlreichen Quellen stammen – etwa aus verschiedenen CAD-, MES-, ERP-Systemen oder IoT-Anwendungen.
Abhängig vom Einsatzzweck des virtuellen Zwillings stellt sich zudem die Frage, welche und wie viele dieser Daten überhaupt in das Modell integriert werden sollen. Bei Dassault Systèmes sprechen wir in diesem Zusammenhang bevorzugt vom virtuellen Zwilling, der sich in eine digitale Umgebung einfügt, kontinuierlich weiterentwickelt und in Echtzeit eingesetzt werden kann – beispielsweise für Konfiguration, Simulation, Wartung oder Schulung. Im Unterschied dazu fokussiert sich der digitale Zwilling stärker auf die physikalische Darstellung, etwa durch digitale CAD-Daten.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Frage des Betriebsmodells: Soll der virtuelle Zwilling on-premises oder in der Cloud betrieben werden? Während native SaaS-Lösungen anfangs weniger Raum für individuelle Anpassungen bieten, punkten sie durch automatische Updates, hohe Skalierbarkeit und Zukunftssicherheit. Für diese „Out-of-the-Box“-Funktionalität stellen wir standardisierte Prozesse bereit. On-Premises-Lösungen hingegen bieten zwar mehr Spielraum für Individualisierung, bringen aber langfristig einen höheren Wartungs- und Verwaltungsaufwand mit sich.

Kommen Sie zum Maschinenbau-Gipfel Salon!
Der Maschinenbau-Gipfel ist richtungsweisend und impulsgebend für die gesamte Branche. Damit Sie nicht ein ganzes Jahr auf spannende Diskussionen verzichten müssen, laden wir Sie zu unserem Networking-Format "Maschinenbau-Gipfel Salon" mit anschließendem Catering ein – live vor Ort oder digital.
Der nächste Maschinenbau-Gipfel Salon ist im Oktober 2025. Weitere Informationen folgen bald.
Das Thema: "Innovation im Fokus: Virtuelle Zwillinge, Kreislaufwirtschaft und die Rolle der KI"

Was sind die größten Herausforderungen bei der Umsetzung von Digital-Twin-Konzepten?
Sauer: Neben der bereits angesprochenen Datenqualität und den weiterhin bestehenden Datensilos stellt auch die technologische Komplexität eine zentrale Hürde dar. In vielen Unternehmen sind Hunderte von Applikationen im Einsatz – oft ist selbst für zentrale IT-Abteilungen unklar, wofür einzelne Anwendungen überhaupt genutzt werden. Eine systematische Bereinigung der IT-Landschaft ist entsprechend anspruchsvoll. Noch gravierender ist jedoch häufig der notwendige kulturelle und organisatorische Wandel, den die Einführung virtueller Zwillinge mit sich bringt. Obwohl viele Unternehmen die strategische Bedeutung dieser Projekte längst erkannt haben, hängt ihr Erfolg maßgeblich von der Akzeptanz innerhalb der Belegschaft ab. Neue Technologien einzuführen und gleichzeitig die IT-Architektur zu modernisieren, ist kein rein technisches Projekt – es ist ein Transformationsprozess.
Die Entscheidung für den Einsatz eines virtuellen Zwillings – dessen Grundlage in der Regel ein leistungsfähiges PLM-System ist – wird oft durch Fachabteilungen vorbereitet und schließlich top-down getroffen. Die eigentliche Herausforderung liegt jedoch darin, diesen Wandel nachhaltig in die Organisation zu tragen und die Mitarbeitenden aktiv einzubinden. Hinzu kommt der wirtschaftliche Druck: Der Return on Investment soll möglichst kurzfristig sichtbar werden. Abteilungsleiter stehen dabei unter doppeltem Zugzwang – neue Lösungen einführen und gleichzeitig Einsparpotenziale realisieren.
Welchen Nutzen können Maschinen- und Anlagenbauer mit KI erzielen und wie profitieren die Kunden davon?
Sauer: Klassische V-Modellprozesse in der Produktentwicklung lassen sich durch den Einsatz künstlicher Intelligenz deutlich effizienter gestalten. Besonders im Servicebereich, der für viele Unternehmen einen wesentlichen Umsatzanteil darstellt, ermöglichen KI und digitale Zwillinge neue, individuell zugeschnittene Angebote. Sie erhöhen die Aktualität über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg. Digitale Repräsentanzen jeder einzelnen Kundeninstallation schaffen mehr Transparenz im Ersatzteilmanagement.
Bevor ein Produkt real gefertigt wird, kann virtuell überprüft und getestet werden, ob es sich in bestehende Produktionslinien einfügt. Anpassungen lassen sich im Vorfeld vornehmen und optimieren. So werden Entwicklungszeiten verkürzt, Kosten reduziert und Risiken minimiert. Gleichzeitig verbessern sich Qualität und Effizienz über den gesamten Lebenszyklus.
Warum ist es so wichtig für den Maschinen- und Anlagenbau, (generative) KI in die Produktentwicklung, in Produkte und Services zu integrieren?
Sauer: Der Einsatz generativer KI hilft dem Maschinen- und Anlagenbau, Komplexität beherrschbar zu machen, Entwicklungsprozesse zu beschleunigen und dem Fachkräftemangel gezielt zu begegnen. Unsere sogennanten Virtual Companions sind nicht dafür gemacht, um Personal zu ersetzen, sondern unterstützen – wie der Name andeutet – die Belegschaft als digitale Begleiter bei effizienterer Arbeit.
Ein Beispiel zur Integration: Dassault Systèmes kündigte Anfang Februar mit den ‚3D UNIV+RSES‘ ein Technologiepaket an, das generative KI in unterschiedlichen Anwendungsszenarien integriert. Wir haben Kunden, die KI beispielsweise zur Ressourceneffizienz und Reduktion von Vergleichsteilen nutzen – indem beispielsweise hunderte gleich dimensionierte Kleinteile durch wenige standardisierte Komponenten ersetzt werden. Generative KI ermöglicht es zudem, den gesamten Produktentwicklungsprozess bis zu einem gewissen Grad per natürlicher Sprache zu steuern.
Besonders in der frühen Designphase profitieren Entwickler von dialogbasierten Entwürfen auf Basis vorhandener Modelle. Die KI kann neue Bauteilvorschläge generieren und dabei gezielt auf bestehende Entwicklungen zurückgreifen. Zugleich lassen sich konkrete Anforderungen und Fertigungsverfahren wie 3D-Druck berücksichtigen – etwa in Bezug auf Steifigkeit, Gewicht, Materialeinsatz oder das gezielte Vermeiden bestimmter Stoffe. Gerade im Hinblick auf Nachhaltigkeit ist das ein entscheidender Vorteil. Diese Technologie ist ein echter Game Changer.
Wie gut sind die Unternehmen hier bereits aufgestellt?
Sauer: In Gesprächen mit unseren Kunden und Partnern zeigt sich deutlich: Das Interesse am Einsatz künstlicher Intelligenz ist groß. KI ist längst kein kurzfristiger Hype mehr, sondern hat sich zu einem festen Trend entwickelt – nicht zuletzt dank immer zahlreicherer, konkreter Anwendungsfälle, die das Potenzial eindrucksvoll belegen. Und doch steckt die Branche insgesamt noch in den Anfängen.
Entscheider stehen unter erheblichem Druck, möglichst schnell sichtbare Ergebnisse zu liefern. Umso wichtiger ist es, nicht auf kurzfristige Erfolge zu setzen, sondern eine langfristig tragfähige Strategie zu verfolgen: Denn mit Schnellschüssen lässt sich KI kaum nachhaltig in die Unternehmenspraxis integrieren.
Wie wichtig sind nachhaltigere Produktdesigns für die Branche?
Sauer: Wiederverwendbarkeit ist eine zentrale Idee des generativen Designs – nicht nur aus ökologischer, sondern ebenso aus wirtschaftlicher Sicht. Ziel ist es, Produkte so zu gestalten, dass sie am Ende ihres Lebenszyklus einfacher in den Materialkreislauf zurückgeführt werden können. Gleichzeitig rückt der ökologische Fußabdruck stärker in den Fokus.
Um diesen Aspekt schon in frühen Phasen einzubeziehen, hilft beispielsweise eine Ökobilanzierung: Sie unterstützt Entwickler und Entwicklerinnen dabei, den CO2-Fußabdruck eines Produktdesigns zu berechnen und frühzeitig zu bewerten, welchen Einfluss die Auswahl von Lieferanten und Materialien auf die Nachhaltigkeit hat.
Bei Künstlicher Intelligenz den Durchblick behalten!
Das ist nicht immer einfach, doch wir wollen es Ihnen leichter machen! Daher haben wir für Sie einen praktischen Überblick zu den wichtigsten Fragen erstellt: "Künstliche Intelligenz - verständlich erklärt". Damit können Sie Ihr KI-Wissen auffrischen.
Anwendungsbeispiele, Einordnungen und vieles mehr finden Sie in unserem Fokusthema KI.
Welche Maßnahmen werden typischerweise bisher umgesetzt, um die Produkte fit für die Kreislaufwirtschaft zu machen? In welchen Bereichen sehen Sie weitere Möglichkeiten, perspektivisch die Nachhaltigkeit der Produkte zu erhöhen?
Sauer: In der deutschen Wirtschaft wird das Thema Nachhaltigkeit bereits sehr bewusst angegangen. Es herrscht eine hohe Sensibilität, und Nachhaltigkeitsaspekte werden häufig von Anfang an mitgedacht. In einigen Bereichen besteht jedoch noch Anpassungsbedarf bei den regulatorischen Rahmenbedingungen – etwa bei der digitalen Dokumentation, durch die sich Millionen Tonnen Papier einsparen ließen. Derzeit ist vielerorts weiterhin eine gedruckte Version in mehreren Sprachen erforderlich.
Gerade im Kontext von Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit wird deutlich: Eine stabile digitale Grundlage ist essenziell. Je fragmentierter die IT-Landschaften in den Unternehmen, desto schwieriger ist es, Daten systemübergreifend zusammenzuführen. Hier bestehen noch erhebliche Hürden. Virtuelle Zwillinge leisten einen wertvollen Beitrag, um Komponenten schneller in neue Produkte oder Prozesse zu integrieren und fundierte Entscheidungen zur Wiederverwendbarkeit zu treffen. Dafür braucht es Standards – und ebenso die Zusammenarbeit über Unternehmensgrenzen hinweg. Die Optimierung innerhalb einzelner Firmen reicht nicht mehr aus.
In unserem industriellen Netzwerk sind wir beispielsweise darauf angewiesen, dass möglichst viele Unternehmen die Verwaltungsschale (Asset Administration Shell) der Industrial Digital Twin Association unterstützen, um Daten entlang der gesamten Wertschöpfungskette effizient austauschen zu können. Nur durch gemeinsame Anstrengungen sowie den konsequenten Einsatz digitaler Lösungen und Standards lässt sich die Nachhaltigkeit von Produkten langfristig sichern und die Kreislaufwirtschaft wirkungsvoll vorantreiben.

Kommen Sie zum Maschinenbau-Gipfel!
Der 14. Deutsche Maschinenbau-Gipfel war ein herausragender Erfolg! Über 900 Teilnehmer versammelten sich in Berlin für den größten Gipfel aller Zeiten. Prominente Gäste aus Wirtschaft und Politik bereicherten die Veranstaltung.
2025 geht es weiter! Die Branche trifft sich am 16. und 17. September 2025 in Berlin.