Die EU steht vor einer wegweisenden Wahl.

Die EU steht vor einer wegweisenden Wahl. Vom Ausgang der Europawahl am 9. Juni hängt ab, ob die Staatengemeinschaft künftig handlungsfähig und geopolitisch sicher ist. (Bild: Stefania C. - stock.adobe.com)

Die Europäische Union (EU) muss sich um Geopolitik kümmern. Heute leuchtet das ein. Noch vor fünf Jahren war das anders. Als Ursula von der Leyen (CDU) direkt nach ihrem Amtsantritt als Präsidentin der EU-Kommission in Brüssel eine „geopolitische Kommission“ einrichten wollte, stieß sie mit ihrer Forderung auf Unverständnis. Der ehemaligen Bundesministerin für Verteidigung war aber klar, dass Europas Bürger nur dann in Wohlstand leben und seine Unternehmen nur dann erfolgreich wirtschaften können, wenn die Staatengemeinschaft militärisch abgesichert und wirtschaftlich resilient ist.

Heute wissen das auch die damaligen Kritiker der Kommissions-Präsidentin. Denn im Zuge der Corona-Pandemie sind Lieferketten zusammengebrochen. Vladimir Putin hat 2022 nicht nur die Ukraine, sondern mit ihr auch die europäische Sicherheitsarchitektur angegriffen. China ordnet die Welt ökonomisch und technologisch zunehmend nach seinen Vorstellungen. „Geopolitische Risiken sind daher real, ihnen unvorbereitet zu begegnen wäre mit hohen Kosten verbunden“, warnt Professor Guntram Wolff, Volkswirt an der Universität Erfurt und bis Februar 2024 Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. 

Europawahl: Es geht um Freiheit, Demokratie und Wohlstand

Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni geht es also nicht nur um den Kurs, den die EU künftig in der Wirtschafts-, Energie-, Technologie- und Verkehrspolitik einschlägt. Es geht auch darum, wie sie diesen in der aktuellen Weltlage absichert. „Letztlich geht es bei dieser Europawahl damit um Freiheit, Demokratie und den Wohlstand von uns allen“, betont die Vizepräsidentin der Industrie- und Handelskammer (IHK) für München und Oberbayern, Ingrid Obermeier-Osl.

Zumal die See noch rauer werden dürfte, sollte Donald Trump im November die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnen. Die Amerika-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Laura von Daniels, und die Fachfrau der SWP für Sicherheitspolitik, Claudia Major, erwarten dann nichts weniger, als dass die USA „disruptive Entscheidungen in der Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts- und Klimapolitik“ treffen.

Trump dürfte zudem - wie schon in seiner Amtszeit von 2017 bis 2021 – mit dem Handelsbilanzdefizit der USA gegenüber der EU höhere Zölle auf Waren aus Europa rechtfertigen, wenn ihm dieses nicht in einen neuen 'Kalten Krieg' gegen China folgt.

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EU: Maschinenbau profitiert mehr als andere Branchen

Kaum einem EU-Mitglied würde dies so schaden wie Deutschland. Denn kein Land profitiert von der Gemeinschaft mehr als dieses. „Jeder vierte deutsche Arbeitsplatz hängt vom Export ab, mehr als die Hälfte unserer Exporte gehen in die EU“, erklärte der Parteichef der SPD Lars Klingbeil auf der außen- und sicherheitspolitischen Jahrestagung der Friedrich-Ebert-Stiftung 2023.  

Zwei von drei deutschen Unternehmen sehen im Zugang zu den europäischen Märkten daher den größten Vorteil, den ihnen die EU bringt. Drei von vier Betrieben betonen die Vorteile des Euro, durch den Währungsrisiken bei den meisten Geschäften in Europa entfallen. Dieses Bild zeichnet die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) in ihrem „Unternehmensbarometer 2024“. 

Der Maschinenbau profitiert von der EU sogar noch mehr als andere Branchen. Laut Statistischen Bundesamt verkauft er 84 Prozent seiner Exporte in die EU – allen voran nach Frankreich, Italien, Polen, in die Niederlande und nach Österreich. Allein in Frankreich machen die Betriebe 16 Prozent ihres Auslandsgeschäfts. Und während andere Märkte schwächeln, legten die Maschinenexporte in die EU im vierten Quartal 2023 um neun Prozent zu, meldet der Branchenverband VDMA.  

Firmen beklagen: Wettbewerbsfähigkeit der EU lässt nach

In der DIHK-Umfrage beklagten zwei von drei Industriebetrieben aber auch, dass die Wettbewerbsfähigkeit der EU seit 2019 nachgelassen hat. Denn trotz der geopolitischen Klugheit von der Leyens sind seit 2019 weder die Resilienz, noch die Innovationsstärke und damit die geoökonomische Sicherheit der Staatengemeinschaft größer geworden.

„Der EU fehlen bislang konsistente und umfassende Programme für die Transformation der Industrie, digitale Technologien und die Stärkung von Sicherheit und Verteidigung. Die Konsequenzen der sicherheitspolitischen Zeitenwende und der klimapolitischen Zielsetzungen müssen noch weitgehend auf dem Weg nationaler Aufbau- und Resilienzpläne bewältigt werden“, kritisiert der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI).

Dies liegt vor allem daran, dass die amtierende Kommission direkt nach ihrem Amtsantritt noch im Dezember 2019 den sogenannten 'Green Deal' vorstellte – ein Konzept durch das nicht die geopolitische Sicherheit der EU steigen, sondern ihre Netto-Emissionen von Treibhausgasen bis 2050 auf null sinken sollen.

Der Green Deal wurde zur Grundlage einer umfassenden Klima- und Nachhaltigkeitspolitik, die Brüssel mit „kleinteiliger Regulierung“ und „staatlichem Dirigismus“ statt durch die Entfesselung von Innovationen und Investitionen durch marktwirtschaftliche Anreize umgesetzt hat, resümiert der Präsident der IHK für München und Oberbayern, Professor Klaus Josef Lutz. 

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EU-Bürokratie kostet Unternehmen Milliarden

Unter anderem hat die EU Betrieben zahlreiche neue Berichtspflichten auferlegt. Sie zu erfüllen, kostete Unternehmen allein 2022 zwei Milliarden Euro, berichtet der Verband der europäischen Handelskammern, Eurochambres. Insgesamt verursachen Berichtspflichten, die Betriebe nach EU-Recht zu erfüllen haben, ihnen einen Aufwand von 22 Milliarden Euro. Das ist mehr als die Hälfte ihrer Bürokratiekosten, berichtet der deutsche Normenkontrollrat. 

Für Benedict Padberg, Geschäftsführer des Cybersicherheits-Anbieters „Friendly Captcha GmbH“ und Gewinner des deutschen Gründerpreises 2023 ist daher klar, was Unternehmern von der künftigen EU-Kommission erwarten. „Punkt 1 ist der Bürokratieabbau. Die vielen Vorschriften nerven und kosten zu viel Zeit und Geld“, so Padberg. Er drückt damit aus, was auch 95 Prozent der von DIHK befragten Unternehmen im Pflichtenheft der nächsten Kommission an erster Stelle sehen wollen – eben diesen Bürokratieabbau.

Kritik an Energiepolitik der EU

Neben diesem hat für 68 Prozent der Kammermitglieder die Versorgung mit bezahlbarer Energie höchste Priorität. In der energieintensiven Industrie sehen das sogar drei Viertel der Betriebe so. Einen Vorschlag zur Reform des europäischen Elektrizitätsmarktes und dem Ausbau der Erneuerbaren Energien in der EU legten Energiekommissarin Kadri Simson und der für den 'Green Deal' zuständige Kommissions-Vizepräsident, Frans Timmermans, dennoch erst im März 2023 vor – zu spät, um Betrieben nach dem Ende der Gaslieferungen aus Russland schnell wieder Strompreise zu sichern, mit denen sie global wettbewerbsfähig sind.

„Nicht vernachlässigt werden sollte zudem der mit dem Markthochlauf des Wasserstoffs verbundene Infrastrukturausbau“, schreibt die DIHK der künftigen Kommission ins Pflichtenheft. Sie solle sich sowohl um Pipelines in wasserstoffproduzierende Länder in Nordafrika wie um LNG-Infrastruktur in Europa kümmern. 

Das fordert der Industrieverband BDI

Darüber dürfen die Kommissare aber wirtschaftspolitische Themen wie die Vollendung des Binnenmarktes, den Abschluss neuer Freihandelsabkommen, die Finanzierung strategischer Zukunftsinvestitionen und die Innovationspolitik nicht vergessen, fordert der BDI. Inzwischen steht auch die Wiederbelebung der europäischen Rüstungsindustrie auf der Liste dringender Themen.  

Die Forderungen sind begründet. Würde etwa der Binnenmarkt vollendet, ließen sich dort bis 2029 gut 713 Milliarden Euro mehr umsetzen, rechnet die EU-Kommission vor. Dazu muss sie aber dafür sorgen, dass alle Mitgliedsstaaten ihre jeweiligen Märkte öffnen. „Nationale Befindlichkeiten dürfen nicht länger als Vorwand dienen, um die Vertiefung des Binnenmarktes zu blockieren. Die EU-Mitgliedsstaaten sollten EU-Recht immer 1:1 umsetzen“, fordert der BDI.

Gegen Mitglieder, die dies nicht erfüllen, solle die Gemeinschaft ohne Rücksicht auf politische Erwägungen strenger vorgehen. Georg Dettendorfer, Vize-Präsident der IHK für München und Oberbayern findet das richtig. „Wir haben uns in Europa auf den freien Warenverkehr geeinigt“, so der Spediteur. Österreich hebele das mit der Blockabfertigung von Lkw an seinen Grenzen aber aus. „Wenn jeder Mitgliedsstaat wieder anfängt, sein eigenes Ding zu machen, bleibt nichts mehr übrig von unserem Binnenmarkt“, warnt Dettendorfer.  

Das sind die Industrietrends 2024

Roboter in Fabrik
  (Bild: Nataliya Hora - stock.adobe.com)

Handelsabkommen: Die Gespräche stocken

Mehr Zug muss die nächste Kommission auch in den Abschluss von Handelsabkommen bringen. Immerhin sehen acht von zehn Industriebetrieben in der Handelspolitik der Staatengemeinschaft einen Nutzen für sich – 57 Prozent der Betriebe sogar einen großen. In den vergangenen fünf Jahren hat die Kommission sich bemüht, diesen weiter zu steigern und neue Freihandelsabkommen (FTA) mit Singapur und Vietnam in Kraft gesetzt sowie Verhandlungen mit Neuseeland, Mexiko und Chile abgeschlossen.

Die Gespräche über ein FTA mit den Staaten des Mercosur - Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay - aber stocken. Dabei würde durch das Mercosur-Abkommen die größte Freihandelszone der Welt mit mehr als 700 Millionen Verbrauchern entstehen. „Auch Verhandlungen mit den Golfstaaten sollten wieder aufgenommen und die noch ausstehenden Ratifizierungen der EU-Abkommen mit Afrika rasch erfolgen“, fordert der Außenwirtschaftschef der DIHK, Volker Treier. In Afrika hat Brüssel mit 32 Staaten sogenannte Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ausgehandelt.  

EU muss sich vor der anstehenden Erweiterungsrunde reformieren

Eine weitere Baustelle, die Mitgliedsstaaten, EU-Kommission und -Parlament in der nächsten Legislaturperiode schließen müssen, ist die Reform der Gemeinschaft selbst. Sie kann die neun Staaten, denen sie wie Albanien, Georgien, Moldau oder der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten gewährt hat, nur aufnehmen, wenn sie zuvor ihre Abstimmungsmodalitäten, die Verfahren für die Verteilung von Geldern aus dem EU-Haushalt und die Größe ihres Parlaments sowie der Kommission neu regelt.

Deutschland und Frankreich haben für eine entsprechende Reform 2023 einen Vorschlag unterbreitet. Er ersetzt das heutige Einstimmigkeitserfordernis bei Abstimmungen durch ein System qualifizierter Mehrheiten. Regierungen in Osteuropa konnten Paris und Berlin bislang aber nicht überzeugen. Die künftige EU-Kommission wird sie dabei unterstützen müssen.

maschinenbau-Gipfel Salon
(Bild: mi-connect)

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Das könnte schwierig werden. Denn Umfragen deuten darauf hin, dass sich die Kommission nach den Wahlen nicht mehr auf die Mehrheit einer Koalition aus Christdemokraten (EVP), Liberalen und Sozialdemokraten verlassen kann. Die drei Fraktionen haben seit 2019 die Arbeit von Ursula von der Leyen unterstützt. Am 9. Juni könnten rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in Finnland und Schweden, den Niederlanden, Österreich, Italien, Frankreich und Deutschland aber deutlich mehr Mandate gewinnen, als sie bislang haben.

Um sich nach der Wahl eine Mehrheit zu sichern, knüpft der Fraktionsvorsitzende der EVP und CSU-Politiker Manfred Weber heute schon enge Kontakte zu Rechtsextremen wie den postfaschistischen Fratelli d’Italia – der Partei von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Einige der Radikalen haben aber überhaupt kein Interesse an einer handlungsfähigen EU.

So fordert die Alternative für Deutschland (AfD) dessen Austritt aus der Gemeinschaft, wenn sich diese nicht reformieren lässt. Fragwürdig ist auch die Nähe der AfD zu Russland, die sie mit Rechten in Frankreich und Österreich teilt. Geopolitik wird sich mit solchen Brandstiftern künftig nicht machen lassen – zumindest keine, die im Interesse deutscher und europäischer Unternehmen wäre.

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