Unternehmen geraten aus unterschiedlichsten Gründen in Turbulenzen. Wie auch immer die Schieflage im Detail aussieht, es lassen sich stets einige Gemeinsamkeiten feststellen. Dazu gehört die mangelnde Fähigkeit zum Multitasking, wenn es darum geht, mehrere Probleme gleichzeitig anzupacken.
Dabei sind Firmen mehr denn je durch die Konfrontation mit ihren aktuellen Finanzzahlen gezwungen, mehrere Brandherde an verschiedenen Stellen auf einmal zu löschen. Eine unerlässliche Eigenschaft für eine gute Unternehmensführung möchte man meinen. Die Realität sieht aber anders aus, denn nach mehr als zehn Jahren kontinuierlichen Wachstums sind diese multifunktionalen Feuerlöscher in der neuen Managergeneration bislang kaum anzutreffen.
Dazu lockt von politischer Seite ein schleichendes Gift mit Suchtpotenzial. Maßnahmen wie Darlehensflutung, Kurzarbeit sowie die - mittlerweile wieder aufgehobene - Aussetzung der Insolvenzantragspflicht können eine heimtückische Wirkung haben: Sie stören die Ruhe nicht, flößen kurzfristig Vertrauen ein und entfalten eine sedierende Wirkung.
In Wirklichkeit geraten die Unternehmen dadurch dem Abgrund näher, denn das Leiden wird lediglich verlängert, nicht kuriert. Und zu guter Letzt fehlen in den Unternehmen einschlägige Erfahrungen und ausgewiesene Kompetenzen in der Restrukturierung. Komplexität und Schwierigkeitsgrad eines Turnarounds werden deshalb - aus Unkenntnis und Unsicherheit - zumeist unterschätzt.
Beruhigungspillen lösen die Probleme nicht …
Um rechtzeitig einer Notlage gegenzusteuern, kommen ausgeklügelte Controlling- und Reportingsysteme zum Einsatz, tatkräftig unterstützt durch Heeresscharen von Anwälten, Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern und Unternehmensberatern. Damit Konformität gewährleistet ist, stehen Corporate Governance und Compliance bei allen Handlungen als Leitplanken zur Seite.
Doch die drohende Haftungsinanspruchnahme schwebt wie ein Damoklesschwert über den Häuptern. Die Folge: Entscheidungsstaus und noch mehr Analysen nach dem Motto „Betrachten wir das alles nochmals von einer anderen Seite.“ Diese verordnete Lethargie kommt vielen Managern oft nicht ungelegen, denn damit können sie unangenehme Entscheidungen getrost verzögern und auf den Faktor Zeit hoffen. Im geschwächten Immunsystem eines Unternehmens ist dieser Zustand fatal, denn er bedroht die Abwehrkräfte und macht es schließlich krank.
Wenn bei in Schieflage geratenen Unternehmen eine Gabe ganz besonders gut entwickelt ist, dann ist es das Vorgaukeln eines Übermaßes an extremer Positivität. So werden aktuell sehr gerne unbeeinflussbare externe Faktoren wie Coronakrise, steigende Rohmaterialpreise, Lieferprobleme bei Halbleitern und vieles mehr als Gründe für eine derzeit unbefriedigende Ergebnislage strapaziert. Bei oberflächlicher Betrachtung würde man dem als Außenbetrachter vielleicht zustimmen.
… sondern verzögern nur konkrete Lösungen
Lässt man allerdings den Rauch dieser rhetorischen Blendgranaten verziehen, wird sehr schnell sichtbar, dass die wahren Gründe für die Malaise ganz woanders liegen. Häufig waren die Unternehmen schon weit vor dieser Sondersituation in einen Abwärtsstrudel geraten oder hatten sich schlechter als ihre Wettbewerber entwickelt.
Meistens hat eine Krise absolut nichts mit plötzlich auftretenden externen Ereignissen zu tun, wie es viele Gesellschaften behaupten. Mehrheitlich setzte der Abwärtstrend schon Jahre vorher ein, und zwar in 80 Prozent meiner Restrukturierungsfälle ausgelöst durch Fehlentscheidungen oder aufgeschobene Entscheidungen.
In diesem Kontext spielt auch der Aufsichtsrat eine gewichtige Rolle. Denn laut § 111 Abs 1 AktG, welches auch für mitbestimmte GmbHs gilt – und das wird oft übersehen – übt der Aufsichtsrat eine überwachende Funktion aus. In dieser Rolle kann er nicht in das operative Geschäft eingreifen. Vor allem im Insolvenzfall drohte der Tatbestand der faktischen Geschäftsführung und könnte zu möglichen Haftungsansprüchen führen.
Der Aufsichtsrat ist aber durchaus dazu angehalten, in Krisensituationen einer erhöhten Überwachungspflicht nachzukommen. In der Praxis kann das zum Beispiel bedeuten, Sonderberichte oder Gutachten zur Lage des Unternehmens durch den Vorstand, die Geschäftsführung oder auch durch Dritte zu veranlassen. Passivität kann hier im Worst Case zum Damoklesschwert werden.
Warum ein holistischer Ansatz für den Turnaround entscheidend ist
Wie aber gestaltet sich ein solcher Turnaround? Ein Turnaround ist stets holistisch, also ganzheitlich über Finanzwirtschaft, Leistungswirtschaft und strategische Repositionierung eines Unternehmens zu sehen. Das Management eines solchen Turnarounds bringt eine Reihe von Herausforderungen mit sich. Es geht hier nicht um ein esoterisches Change-Management-Projekt, sondern um einen scharfen Paradigmenwechsel.
Für diese Aufgabe eignet sich nur, wer den Mut und die Standfestigkeit zu harten Entscheidungen hat, die auch schmerzhafte Einschnitte für die Belegschaft bedeuten können. Die Umsetzungsgeschwindigkeit sowie die Relevanz und Konsequenz der erforderlichen Maßnahmen machen dabei den Unterschied aus. Und man muss sich im Klaren darüber sein, dass dieser Wandel nicht mit allen Managern zu machen ist, die das Unternehmen in die Krise geführt haben. Es ist immer langwierig und mühsam, sich mit Fröschen über das Absenken des Wasserpegels in ihrem Teich zu unterhalten.
Bevor wir starten, lassen Sie uns zunächst auf einige Begrifflichkeiten verständigen, wie ich sie später weiterverwenden werde, um die einzelnen Schritte einer Transformation oder eines Turnarounds zu erläutern. Bei einer Restrukturierung handelt es sich um die Vorstufe einer Sanierung, in der es darum geht, die Effizienz und Performance zu steigern. Nach betriebswirtschaftlicher Definition versteht man darunter eine grundlegende, über Veränderungen im organisatorischen Aufbau und Ablauf hinausgehende Umstrukturierung eines Wirtschaftssubjekts.
In der Praxis bedeutet das: es wird nach Wegen gesucht, um die Produktivität zu erhöhen und die Firma wieder in die Erfolgsspur zu bringen. Wie ist das möglich? Etwa durch das Entwickeln von neuen Geschäftsmodellen oder Produkten. Ein solcher Schritt ist vor allem dann unerlässlich, wenn sich eine ganze Branche „transformiert“.
Im Gegensatz dazu geht es bei meist banken- oder gläubigerseitig ausgelösten Sanierungen darum, organisatorische und finanztechnische Maßnahmen in die Wege zu leiten, welche die Leistungsfähigkeit wiederherstellen. Das alles mit dem vorrangigen Ziel, eine Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung abzuwenden. Ist die Sanierung erfolgreich abgeschlossen, sprechen wir von einem gelungenen Turnaround. Hier liegt die Crux allerdings häufig auf einem fast ausschließlichen Fokus auf die finanzwirtschaftliche Sanierung, also auf die Passivseite der Bilanz.
Die eigentliche Ursache der Krise wird hier oft nicht angegangen und die Fehleranalyse dreht eine Wiederholungsschleife nach der anderen. Gerade deshalb ist es so wichtig, einen Turnaround holistisch anzulegen – als Kombination aus finanzwirtschaftlicher Sanierung, leistungswirtschaftlicher Restrukturierung und strategischer Repositionierung. Wie die Blaupause dafür aussieht und wie sich Transformationen und Turnarounds nach meinen Erfahrungen am zielführendsten umsetzen lassen, erläutere ich Ihnen in meiner nächsten Kolumne.
Ihr Rüdiger Tibbe
Über den Autor
Der Autor Rüdiger Tibbe kommt aus einem Familienunternehmen der Automobilindustrie und bringt darüber hinaus eine große Erfahrung auf oberer Führungsebene großer börsennotierter Konzerne, insbesondere in der produzierenden Industrie, mit. Er ist Senior Partner und Managing Director der Excelliance Management Partners GmbH in Grünwald bei München und ein international gefragter Chief Restructuring Officer. Seit 2001 und weit über 100 Projekten hat sich die sog. Excelliance Industry Taskforce über die Jahre in den Bereichen Transformation und Turnaround Management mit ihren hoch spezialisierten, international tätigen (Restrukturierungs-)Experten zu einer verlässlichen Größe entwickelt.
Alle Kolumnen von Rüdiger Tibbe
Ihnen hat diese Kolumne gefallen? Alle Kolumnen von Rüdiger Tibbe, die bislang bei PRODUKTION erschienen sind, finden Sie hier:
- Change Management: Ohne den Menschen klappt es nicht
- Wie ein nachhaltiger Turnaround gelingt (Teil 1)
- So gelingt der geschäftliche Turnaround (Teil 2)
- Preispolitik in Krisenzeiten: So funktioniert es
- So gelingt die Budget-Planung 2022
- So schaffen Sie rechtzeitig den Turnaround aus der Krise
- Tipps für Finanzchefs: Wie gutes Krisenmanagement gelingt
Ein ausführliches Porträt über Rüdiger Tibbe können Sie hier lesen.